# taz.de -- Jahrestag der Proteste in Belarus: Ernüchternde Bilanz | |
> Wegen Alexander Lukaschenko im deutschen Exil: Ein persönlicher Rückblick | |
> auf das Protestjahr in Belarus und die Repressionen des Diktators. | |
Bild: Gedenkveranstaltung in Kiew für den ermordeten belarussischen Aktivisten… | |
Genau vor einem Jahr fand die Präsidentschaftswahl in Belarus statt. Seit | |
1994 regiert dort Alexander Lukaschenko, der bereits in der zweiten Hälfte | |
der 1990er Jahre eine Diktatur etablierte. | |
Lukaschenkos Diktatur war ein entscheidender Grund für meine Familie, | |
Belarus zu verlassen: als „jüdische Kontingentflüchtlinge“ kamen wir Ende | |
2000 nach Deutschland, wo ich meine akademische Laufbahn fortsetzte und | |
mehrere Jahre über Belarus im 20. Jahrhundert forschte. Mein | |
Forschungsschwerpunkt galt damals eher als exotisch: Kaum jemand | |
interessierte sich vor 2020 für die ehemalige Sowjetrepublik Belarus, in | |
der „Europas letzter Diktator“ Lukaschenko nach seinem Gusto schaltete und | |
waltete. | |
Regelmäßig ließ der Herrscher unter dem Namen „Präsidentschaftswahlen“ | |
[1][eine Farce abspielen], fast immer nach dem gleichen Muster: | |
Aussichtsreiche Kandidaten wurden sicherheitshalber nicht zur Wahl | |
zugelassen. Der Amtsinhaber feierte einen „eleganten Sieg“ mit Ergebnissen | |
von mehr als 75 Prozent. Die Proteste, die in der Hauptstadt Minsk nach | |
diesen „Wahlen“ entflammten, wurden unterdrückt, wobei etliche | |
Politiker*innen und Aktivisten*innen hinter Gittern landeten. | |
Und 2020? Nachdem das Lukaschenko-Regime bei der Bekämpfung der | |
Coronapandemie versagt, das Ausmaß der Krise herunterzuspielen versucht und | |
die Bevölkerung somit im Stich gelassen hatte, hat der sowjetisch geprägte | |
Diktator endgültig abgewirtschaftet und seinen Ruf ruiniert. Die | |
Aufbruchstimmung erfasste breite Bevölkerungsschichten. | |
Die [2][Politnovizin Swetlana Tichanowskaja], die vom sexistischen Regime | |
nicht ernst genommen wurde, verkörperte die Hoffnung auf den Wechsel. | |
Tatsächlich soll sie den „ewigen Präsidenten“ bereits in der ersten | |
Wahlrunde klar geschlagen haben. Der machtgierige Autokrat erklärte sich | |
jedoch zum Sieger und vertrieb Tichanowskaja aus dem Land. | |
## Misshandelte Demonstrant*innen | |
Während Lukaschenko eine weitere Amtszeit beanspruchte, gingen Zehntausende | |
Menschen in Minsk und in der Provinz auf die Straße, um gegen die dreiste | |
Wahlfälschung zu protestieren. Sie riefen „Belarus lebt!“ und „Hau ab“… | |
Herrscher ließ die Massenproteste brutal niederschlagen. | |
Demonstrant*innen wurden grausam misshandelt, es gab Tote. | |
In den ersten Tagen nach der Wahl saß ich wie gebannt vor meinem Bildschirm | |
und verfolgte die Proteste: Ich war schockiert von Folter und Gewalt, ich | |
machte mir Sorgen um meine Freunde und Bekannten in Belarus, ich war wütend | |
auf den skrupellosen Diktator und seine Schergen. Und ich war stolz auf | |
meine Landsleute, die dennoch nicht aufgeben und mutig für die Freiheit | |
kämpfen. | |
Noch unmittelbar vor der Wahl konnte ich mir nicht vorstellen, dass die | |
scheinbar übermächtige Diktatur ins Wanken geraten könnte. Der Ausbruch | |
landesweiter Proteste, der Versuch eines Generalstreiks und die Rücktritte | |
einzelner Funktionäre gaben allerdings Hoffnung. Plötzlich schienen | |
Lukaschenkos Tage im Amt gezählt. | |
Doch der Schein trog: Bis Ende 2020 gingen Belarus*innen trotz Gewalt | |
und Repressionen auf die Straße. Das vom Kreml unterstützte Regime brach | |
jedoch nicht zusammen. Lukaschenko hat die erste Protestwelle überstanden. | |
Da die im Frühjahr 2021 erwartete zweite Protestwelle ausblieb, sah er sich | |
ermutigt, seine „Säuberungspolitik“ fortzusetzen und noch zu intensivieren. | |
Das Regime kannte nunmehr keine roten Linien und forderte die EU offen | |
heraus: Die Ryanair-Maschine mit dem oppositionellen Journalisten Roman | |
Protassewitsch an Bord wurde [3][Ende Mai zur Landung in Minsk] gezwungen. | |
Durch den weltweit beachteten Fall Protassewitsch bekam die andauernde | |
Belarus-Krise eine internationale Dimension und spitzte sich zu. | |
Während die EU, Großbritannien und die USA ihre Belarus-Sanktionen | |
verschärften, entschloss sich Lukaschenko in stalinistischer Manier zu | |
einem Frontalangriff auf die Zivilgesellschaft: Regimegegner*innen | |
wurden zu langen Haftstrafen verurteilt – der beliebteste Politiker im | |
Land, Wiktor Babariko, gleich zu 14 Jahren; der politische Häftling Witold | |
Aschurok starb unter mysteriösen Umständen in der Haft, der Aktivist Stepan | |
Latypow versuchte, sich im Gerichtssaal das Leben zu nehmen, der 18-jährige | |
Dmitrij Stachowskij sprang vom einem 16-stöckigen Gebäude in den Tod. | |
Bei den Olympischen Spielen in Tokio bestätigte das Regime seinen Ruf als | |
„Europas Nordkorea“, indem es die unbequeme Athletin [4][Kristina | |
Timanowskaja] nach Belarus zu entführen versuchte. Kurz danach wurde der | |
belarussische Aktivist Witali Schischow in Kiew ermordet. Hinzu kam noch | |
eine verheerende Migrationskrise, die Lukaschenko gezielt entfesselte und | |
dabei in seinem perfiden Rachespiel die Flüchtlinge als Waffe gegen die EU | |
einsetzte. | |
Mehrere Wochen habe ich gebraucht, um kaleidoskopische Ereignisse in | |
Belarus zu reflektieren und einzuordnen. Dabei dachte ich viel an meinen | |
Vater, der lange Jahre von einem demokratischen Aufbruch in Belarus | |
geträumt hatte, kurz vor der Wahl verstarb und den Ausbruch der | |
belarussischen Revolution nicht mehr erleben durfte. Die Situation in | |
Belarus wurde indes immer dramatischer, wobei etliche meiner Freunde und | |
Bekannten von Repressionen betroffen waren. | |
## Antisemitische Hetze | |
Unter diesen Umständen ist mir klar geworden, dass ich meine Stimme gegen | |
die Diktatur und für die Freiheit laut erheben muss. Das bin ich den | |
Menschen schuldig, die in Belarus unter dem Lukaschenko-Regime leiden. So | |
habe ich angefangen, die Ereignisse in Belarus öffentlich zu kommentieren, | |
erlebte schon bald am eigenen Leibe die antisemitische Hetze der | |
belarussischen Staatspropaganda, kann nicht mehr nach Belarus einreisen und | |
soll – spätestens seit dem Fall Schischow – vorsichtig sein. Das war mein | |
eigenes Protestjahr. | |
Die Bilanz des ersten Protestjahres ist insgesamt ernüchternd: Die | |
demokratische Bewegung hat ihr Ziel (noch) nicht erreicht. Der kremltreue | |
Diktator, der Belarus in einen Schurkenstaat verwandelte, ist weiterhin im | |
Amt und zu einem internationalen Problem geworden. Zahlreiche Menschen sind | |
in Haft oder mussten das Land verlassen. Die Repressionen gehen weiter. | |
Aber die im August 2020 geborene Hoffnung ist weiterhin da: Belarus lebt! | |
Belarus wird frei sein! | |
9 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Friedman | |
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