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# taz.de -- Protestbewegung in Belarus: „Wir wollen unsere Mauer einreißen“
> Die belarussische Oppositionsführerin Tichanowskaja erwartet nicht, dass
> Machthaber Lukaschenko verhandeln wird. Sie hofft auf Europa als
> Mediator.
Bild: Europa solle helfen, die unterschiedlichen Kräfte zusammenzubringen, sag…
taz: Frau Tichanowskaja, wie möchten Sie angesprochen werden? Als Frau
Tichanowskaja oder als Frau Präsidentin?
Swetlana Tichanowskaja: Ich vermeide es, mich Präsidentin zu nennen, die
Menschen bezeichnen mich als eine vom Volk gewählte Präsidentin. Ich sehe
mich sowohl als Führerin eines demokratischen Belarus als auch als
nationales Symbol. Denn wir haben ja keine genauen Angaben in Prozenten
über die tatsächlichen Ergebnisse der Wahlen.
Viele sind von der Hartnäckigkeit und dem Durchhaltewillen der Belarussen
überrascht. Die Menschen gehen seit fast zwei Monaten auf die Straße …
Das Volk ist dieses Regimes endgültig überdrüssig, das ist ein sehr
wichtiger Aspekt. Hinzu kommt, dass das Internet jetzt eine zentrale Rolle
spielt. Über Youtube erfährt die ganze Welt, was bei uns passiert. Bei den
Protesten nach der Präsidentenwahl 2010 war das anders. Da war das Internet
noch nicht so weit verbreitet. Die Proteste wurden niedergeschlagen und im
Ausland bekamen viele davon überhaupt nichts mit. Das Internet hat jetzt
auch das Interesse unserer Nachbarn geweckt. Sie sehen, wie gewaltsam das
Regime vorgeht, hingegen unsere Proteste friedlich sind. Wir wollen, dass
das auch so bleibt.
Werden die Proteste weitergehen?
Auf jeden Fall, auch wenn es anfangen sollte zu schneien. Der Protest
drückt sich ja nicht nur in Demonstrationen aus. Es gibt auch andere
Formen, so wie seinerzeit die Partisanen im Untergrund agiert haben. Das
sind zum Beispiel Streiks oder der Umstand, dass sich Menschen in
Hinterhöfen von Wohnblocks treffen und langsam zusammenwachsen. Alle sind
jetzt vereint in dem Willen, dass [1][Lukaschenko] gehen muss. Denn wir
wollen nicht länger Sklaven dieses Systems sein. Die Menschen sind jetzt
stolz darauf, Belarussen zu sein, Geschichte zu schreiben und die Chance zu
haben, ihr Land besser zu machen. Deshalb werden sie für eine friedliche
Zukunft weiter kämpfen.
In einem ihrer Bücher schreibt die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana
Aleksijewitsch, der Krieg habe ein [2][weibliches Gesicht]. Haben auch die
Proteste in Belarus ein vorwiegend weibliches Gesicht?
Ja, weil die Frauen begriffen haben, dass sie das Land nicht im Stich
lassen dürfen. Am Anfang waren drei Frauen die Spitze dieser Bewegung. Bei
den Protesten wurden zunächst vor allem Männer festgenommen und
misshandelt. Frauen wurden nicht in diesem Ausmaß angegangen und haben die
Rolle der Beschützerinnen, so paradox das auch klingen mag. Dann haben die
Sicherheitskräfte auch diese rote Linie überschritten und angefangen,
Frauen festzunehmen. Doch die Gesellschaft ist [3][feministischer]
geworden, es ist eine Art feministische Bewegung entstanden, und das wird
bleiben.
Wer sind die Sicherheitskräfte, die so gewaltsam gegen die Protestierenden
vorgehen? Angeblich sollen nicht wenige von ihnen Russisch mit einem
Moskauer Akzent sprechen. Mit anderen Worten: Sind die Russen schon da?
Das kann keiner mit Sicherheit sagen, sie sind komplett maskiert. Wir
können nur mutmaßen, dass auch Russen unter diesen Kräften sind.
Inwieweit unterstützen die Sicherheitskräfte und das Militär Lukaschenko
überhaupt noch?
Ich würde hier nicht von Unterstützung im eigentlichen Sinne sprechen. In
Wahrheit fußt diese sogenannte Unterstützung auf Angst. Sie sind in einer
noch schwierigeren Lage als normale Leute, die sich jetzt trauen, frei ihre
Meinung zu äußern. Aber diese Sicherheitskräfte sind auch Menschen. Unter
ihnen sind viele, die so nicht agieren wollen, aber die Umstände zwingen
sie dazu. Viele sind inzwischen auf unserer Seite, aber sie sagen das nicht
laut. Ihre Abwendung vom Regime ist unübersehbar, auch wenn es nur in
kleinen Schritten vorangeht, aber dieser Prozess läuft.
Sie treten für Verhandlungen und einen Dialog ein, um zu Neuwahlen zu
kommen. Könnten Sie sich vorstellen, dass Alexander Lukaschenko an einem
Runden Tisch Platz nimmt?
Er selbst würde das nie tun. Mit jemandem zu verhandeln, wäre unter seiner
Würde. Er hat ja immer alles selbst entschieden. Vertreter der Regierung
hingegen kann ich mir da schon vorstellen.
Hat Sie schon jemand aus dem Kreml angerufen?
Nein.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, sich mit Russlands Präsident Wladimir
Putin zu treffen, was würden Sie ihm sagen oder ihn fragen?
Vielleicht bin ich immer noch etwas naiv, ich wurde irgendwie in diese Welt
der Politik geworfen, mit reinen Absichten und reiner Seele und war
überhaupt nicht damit vertraut, wie das alles so abläuft. Aber ich glaube
immer noch daran, dass man sich zusammensetzen und miteinander reden kann.
Ich würde sagen: Herr Putin, ich verstehe ja, dass Herr Lukaschenko als
Präsident für Sie ganz bequem ist. Aber wir, wir sind ein selbstständiges
souveränes Land. Wir sind mit Ihnen befreundet und diese Freundschaft wird
bleiben. Aber wir wollen einen anderen Präsidenten, einen, der nicht für
sich, sondern für das Wohl des Landes und die Menschen arbeitet. Aber das
wird an unseren Beziehungen zu Russland nichts ändern. Ich würde ihn auch
auf die russischen Journalisten ansprechen, die jetzt bei uns tätig sind.
Die verbreiten pure Propaganda und kippen Dreck über uns aus. Das ist eine
Einmischung in unsere politische Krise und das darf nicht sein. Überhaupt
bin ich gegen jede Art von äußerer Einmischung und diese Meinung werde ich
auch weiter vertreten.
Sie treffen sich ja derzeit mit vielen führenden westlichen Politikern.
Leistet das nicht Lukaschenkos und der russischen Propaganda Vorschub, die
belarussische Protestbewegung werde vom Westen gesteuert?
Dazu kann ich nur sagen: Wir werden von niemandem gesteuert und
kontrolliert. Wenn Lukaschenko so etwas behauptet, dann zeigt das nur, dass
er seine Landsleute nicht versteht und auch nicht mehr realisiert, was um
ihn herum vorgeht.
Vor Kurzem hat Brüssel Sanktionen gegen offizielle Vertreter des
belarussischen Regimes verhängt. Halten Sie das für eine sinnvolle
Maßnahme?
Ja, allerdings ist die Sanktionsliste sehr kurz geraten und sollte
unbedingt ausgeweitet werden. Allerdings verstehe ich auch eine gewisse
Zögerlichkeit vonseiten Europas, auch im Hinblick auf Russland.
Was erwarten Sie jetzt von Europa?
Was wir jetzt brauchen, sind Verhandlungen, dass die Kräfte hier an einen
Tisch gebracht werden. Das schaffen wir aber nicht allein, da muss uns
Europa helfen, so als eine Art Mediator. Als Plattform könnte ich mir die
OSZE vorstellen. Jedoch geht es nicht darum, dass Europa uns sagen soll,
was wir zu tun haben. Deshalb stellt diese Hilfe für mich auch keine
Einmischung dar. Und überhaupt: Für Menschenrechte einzustehen, das ist
keine Einmischung.
Sie waren während Ihres Berlin-Besuches auch an der Mauer. Was ging Ihnen
da durch den Kopf?
Ich habe mir damalige Fotos von den Menschen angesehen, die auf der Mauer
stehen, voller Enthusiasmus. Für mich war das ein sehr bewegender Moment.
Ich habe das Gefühl, dass auch wir Belarussen jetzt auf der Mauer stehen.
Und auch wir wollen unsere Mauer einreißen.
6 Oct 2020
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## AUTOREN
Barbara Oertel
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