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# taz.de -- Psychologische Hilfe in Belarus: Die innere Balance wiederfinden
> Viele Belarussen verzweifeln an der Situation. Aktivisten bieten Hilfe
> an. Olga Deksnis erzählt vom Leben in Minsk in stürmischen Zeiten. Folge
> 99.
Bild: Baum zum Kraftschöpfen
Kürzlich war ich zu einer journalistischen Weiterbildung im ukrainischen
Lemberg. Dort fragte mich eine Kollegin: „Hast Du das Gefühl, [1][dass Du
hier außerhalb von Belarus in Sicherheit bist]?“ Leider ja.
Für die Fortbildung sollte ich ein Interview mit einem Mann aus einem
Ökodorf veröffentlichen, aber er sagte unser Treffen ab. Er wolle keine
Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das ist übrigens nicht der erste Vorfall
dieser Art.
Meine Ökologiegeschichte sollte ich auf dem Nachrichtenportal tut.by
veröffentlichen, aber das wurde abgeschaltet. Zum zweiten Teil des
Workshops in der Ukraine konnte ich nicht fliegen. Der Flugverkehr wurde
eingestellt, [2][nachdem der Ryan-Air-Flug Athen-Vilnius mit Roman
Protassewitsch an Bord mit Gewalt nach Minsk umgeleitet worden war]. Ich
hatte das Gefühl, als bewegte ich mich auf dünnem Eis, das bei jedem
Schritt unter meinen Füßen knackte.
Von Kollegen habe ich erfahren, dass in Minsk Aktivisten kostenlose
Programme organisieren. Sie sollen Belarussen dabei helfen, ihr seelisches
Gleichgewicht zurückzugewinnen, das ihnen seit den Wahlen vom August 2020
abhanden gekommen ist. Seitdem haben schon etwa 600 Menschen daran
teilgenommen. Mir ist es gelungen, dort einen Platz zu bekommen.
„Das ist Olga, sie ist Journalistin für soziale Fragen. Sie hat eine
Tochter im Teenageralter und ist vor kurzem aus der Provinz in die
Hauptstadt gezogen. Um zu überleben, übt sie jetzt eine ihrem bisherigen
Beruf verwandte Tätigkeit aus.“ So hat mich ein Fotograf den
Organisator*innen von „Lesa“ (Name der Initiative geändert)
empfohlen.
Mit einem Kleinbus fahren wir aus der Stadt hinaus in ein Hotel an einem
Stausee. Wir sind dort etwa 20 Menschen. Bei der Anmeldung müssen wir keine
Pässe abgeben, wir sind hier alle inkognito. Wir richten uns in den Zimmern
ein und um drei Uhr nachmittags treffen wir uns mit der ganzen Mannschaft
in einem großen Zelt.
„Ich heiße Sascha“, sagt ein Mädchen. Mehr schafft sie nicht, dann bricht
sie in Tränen aus. (Erst später beim Essen erzählt sie, dass sie gerade
eine Haftstrafe hinter sich hat.)
„Ich heiße Antonina Ivanovna“, stellt sich die blonde Frau im Rentenalter
vor. „Ich möchte diese Tage mit meiner Tochter und meiner Enkelin
verbringen.“ (Später erfahren wir, dass sie für ihre Beteiligung an
Protestaktionen umgerechnet 400 Euro Strafe zahlen muss. Sie zahlt das in
Raten von ihrer Rente zurück. Die beträgt umgerechnet etwa 100 Euro
monatlich).
„Wir sind hierher gekommen, um eine für uns wichtige Entscheidung zu
treffen“. In den Augen des Familienvaters, der seinen dreijährigen Sohn auf
dem Schoß hat und seine Frau an der Hand hält, schimmern Tränen. (Später
werden wir wissen, dass die Familie plant, das Land zu verlassen, was für
sie schwierig ist. Erst vor kurzem haben sie eine Wohnung gekauft, sie
möchten ihre Eltern nicht gern allein zurück lassen, aber das Gefühl von
Angst vor Verfolgung lässt nicht nach).
„Mein Name ist Tatjana“, sagt eine Journalistin. „Ich fühle mich schuldi…
dass ich nicht länger Geschichten über repressierte Menschen schreiben
kann, weil ich es nicht mehr ertrage, diese Leiden anzuhören. Alkohol hilft
nicht weiter. Antidepressiva auch nicht. Ich spüre eine innere Wut.“
Drei Tage machten wir an diesem geheimen Ort Yoga, gingen mit geschlossenen
Augen durch den Wald, hielten unbekannte Menschen an den Händen (um wieder
Vertrauen zu lernen), standen auf Nägeln, schrien so laut wir konnten,
malten unsere Befindlichkeiten und sprachen mit Psychologen. Oder saßen
einfach am Wasser und dachten über das Leben nach. Wir alle sammelten
wieder ein wenig Kraft, [3][um unser gewöhnliches belarussisches Leben]
nach den Präsidentschaftswahlen weiter zu leben.
Die Menschen zahlen Strafen dafür, dass sie mit der illegitimen Wahl nicht
einverstanden sind, sie sitzen dafür im Gefängnis, aber die Traumata, die
sie durch diese Ungerechtigkeiten zurückbehalten, verschwinden nicht. Wir
müssen uns noch lange mit ihnen arrangieren.
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
19 Aug 2021
## LINKS
[1] /Belarussische-Grenzkontrollen/!5768022
[2] /Sanktionen-gegen-Belarus/!5768034
[3] /Resignation-in-Belarus/!5768020
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Olga Deksnis
## TAGS
Belarus
Protest
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Minsk
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Schwerpunkt Krisenherd Belarus
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Lesestück Recherche und Reportage
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