# taz.de -- Aus Belarus ins litauische Exil: Grenzenlose Solidarität | |
> Die Belaruss:innen in Litauen eint der Hass auf Alexander | |
> Lukaschenko. Sie helfen denen, die über die Grenze in die EU geflüchtet | |
> sind. | |
Bild: 14 Porträts am Botschaftszaun in Vilnius, ein Mahnmal für Opfer des Reg… | |
Vierzehn Fotos lehnen fein säuberlich gerahmt an einem hohen Eisenzaun in | |
der Mindaugo-Straße, etwas außerhalb des Zentrums der litauischen | |
Hauptstadt Vilnius. Es ist der Zaun der belarussischen Botschaft – eine | |
kleine helle Villa, davor ein Garten mit gepflegten Rosenbeeten. Die Fotos | |
zeigen 14 Männer, die der belarussische Herrscher Alexander Lukaschenko, | |
seit 26 Jahren an der Macht, auf dem Gewissen hat. Vor den Porträts brennen | |
Grablichter. Immer wieder hupen Autofahrer*innen, die die viel befahrene | |
Straße passieren. Das ist ihre Art zu sagen: Wir sind mit euch! | |
Eine Frau bückt sich vor dem Zaun, um die Teelichter in den Gläsern | |
auszuwechseln. Sie ist eine elegante Erscheinung mit ihrer blau-weißen | |
ärmellosen Bluse zum weißen Rock. Die Frau heißt Natalja Kolegova, sie ist | |
55 Jahre alt und Immobilienmaklerin. „Jeden Abend kommt jemand, um hier | |
neue Kerzen anzuzünden“, sagt sie. „Damit das hier nicht verwahrlost, | |
zerstört oder abgeräumt wird.“ Die Fotos sind ein Mahnmal. Eine Ehrung der | |
Toten und auch eine Erinnerung daran, was aktuell in Belarus geschieht. | |
Natalia Kolegova ist Belarussin, lebt aber mit ihrem litauischen Ehemann | |
schon seit mehr als zwanzig Jahren in Vilnius. Seit letztem August | |
engagiert sie sich in der Flüchtlingshilfe. Mittlerweile gibt es ein | |
kleines Netzwerk von Freiwilligen in der Stadt, viele sind aus der | |
belarussischen Diaspora. Sie sammeln und verteilen Kleidung, unterstützen | |
bei der Wohnungssuche und bei Behördengängen. Vor allem aber helfen sie | |
regelmäßig Menschen über die grüne Grenze, die Belarus auf legalem Wege | |
nicht mehr verlassen können. | |
Nach Litauen führen viele Wege – per Boot oder auch zu Fuß durch Wälder und | |
Sümpfe. Mithilfe von Google Maps macht Kolegova diese Wege ausfindig, per | |
Smartphone koordiniert sie die Flucht. 45 Menschen waren es allein in den | |
letzten drei Monaten. „Drei davon haben wir verloren“, sagt sie. „Sie hab… | |
es nicht über die Grenze geschafft. Einer musste dort in Belarus in den | |
offenen Vollzug, ein anderer zur Armee. Der dritte ist verschwunden.“ | |
Rund 12.000 Belaruss*innen leben in Litauen. Ihre Zahl ändert sich | |
ständig. Darunter sind so prominente [1][wie die Oppositionspolitikerin | |
Swetlana Tichanowskaja]. Aber nicht alle von ihnen sind politische | |
Flüchtlinge. Viele sind schon vor 2020 gekommen, oft aus wirtschaftlichen | |
Gründen. Etwa 1.500 Euro brutto beträgt das Durchschnittseinkommen in dem | |
EU-Land, das ist doppelt so viel wie im Nachbarland. | |
Pawel Marinich hat seine Augen, Ohren und Hände überall. Er telefoniert, | |
liest einen Text und gibt auch noch ein Interview – alles gleichzeitig. Der | |
Geschäftsmann ist 50 Jahre alt und sitzt im Büro von Malanka Media, einem | |
Medienprojekt, das er im vergangenen Oktober gegründet hat. Die kleinen | |
Räume liegen in einem ehemaligen Industriekomplex, unweit der | |
belarussischen Botschaft. In ihnen stehen ein paar alte Sessel, Stühle und | |
Schreibtische, wild zusammengewürfelt. Aktuell arbeiten hier 15 | |
belarussische Medienschaffende, die mit einer Website, einem | |
Nachrichtenkanal auf Youtube und Dokumentarfilmen die politischen | |
Ereignisse in Belarus begleiten. | |
Marinich kam bereits 2010 nach Litauen. Damals hatte es zum ersten Mal nach | |
einer Präsidentschaftswahl wegen massiver Fälschungen größere Unruhen in | |
Belarus gegeben, zwei alternative Präsidentschaftskandidaten waren | |
festgenommen worden. Wie viele andere exilierte Belaruss*innen hält | |
auch er regelmäßig Kontakt zu seiner Mutter und anderen Angehörigen, vor | |
allem über die Messenger Whatsapp und Telegram. | |
Angst um seine Angehörigen hat er deswegen nicht. Seine Mutter sei sogar | |
froh, ihn in Litauen in Sicherheit zu wissen, sagt Pawel Marinich. „Für | |
ältere Menschen ist das besser, als wenn ihre Kinder in belarussischen | |
Gefängnissen sitzen.“ Dorthin müsse man ihnen regelmäßig persönlich | |
Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs bringen. Das sei | |
anstrengend und demütigend. | |
Gefragt nach der Lage der freien Presse in Belarus, sagt Pawel Marinich | |
kurz und trocken: „Es gibt keine.“ Unabhängige Informationen bekommen die | |
meisten Menschen in Belarus über verschiedene Telegram-Kanäle und den | |
polnischen Fernsehsender Belsat TV, der für ein belarussisches Publikum | |
sendet. Und jetzt eben auch durch die Nachrichtenbeiträge von Malanka Media | |
aus Vilnius. | |
In Belarus selber gibt es neben den staatlichen TV-Sendern und Zeitungen | |
zwar auch kritische Medien. Doch sie werden brutal unterdrückt. Mehr als | |
500 Journalist*innen [2][sind seit Beginn der Proteste] festgenommen | |
worden. Durchsuchungen von Redaktionsräumen und Privatwohnungen und | |
Festnahmen von Journalist*innen sind in Belarus an der Tagesordnung. | |
Erst in der vergangenen Woche wurden wieder Medienschaffende festgenommen. | |
Derzeit wird gegen mindestens 25 Journalist*innen strafrechtlich | |
vorgegangen. | |
„Litauen ist auf unserer Seite, die Solidarität ist groß“, sagt Marinich | |
und zählt einige Punkte auf: Litauen habe als erster Staat anerkannt, dass | |
Lukaschenko nicht der legitime Präsident von Belarus sei. Vilnius habe im | |
August 2020 mit der Einrichtung eines „humanitären Korridors“ und der | |
Visaerteilung an der Grenze vielen Belaruss*innen die Einreise | |
ermöglicht. Erste Visa, zunächst für ein halbes oder ein Jahr ausgestellt, | |
wurden bereits verlängert. Die Belaruss*innen sagen schlicht | |
„humanitäres Visum“ dazu. | |
Andere sind bereits als Flüchtlinge anerkannt oder warten aktuell noch | |
darauf. Es gibt kostenlose medizinische Hilfsangebote und Litauisch-Kurse. | |
Mit einem Visum und als anerkannte Flüchtlinge bekommen die Menschen auch | |
eine Arbeitsgenehmigung. Und der Bürgermeister von Vilnius, Remigijus | |
Šimašius, hat für das „Belarussische Haus der Menschenrechte“ im | |
Stadtzentrum ein Gebäude zur Verfügung gestellt, fünf Jahre mietfrei. | |
Derzeit wird es renoviert, an den Kosten beteiligen sich auch die | |
Konrad-Adenauer-Stiftung und der German Marshall Fund. Das Haus soll zum | |
Treffpunkt für alle Belaruss*innen werden – mit Vorträgen, | |
Sprachkursen, Kulturveranstaltungen, einer Rechtsberatung und weiteren | |
Angeboten. | |
Olga Velitschko inspiziert die Räumlichkeiten. Mitte Juli soll das Haus | |
eröffnet werden, doch wahrscheinlich verzögert es sich noch. „Dieser Raum | |
im Erdgeschoss wäre gut für die Kindersprechstunde“, sagt die 38-Jährige. | |
Die zierliche Frau mit den langen offenen Haaren spricht leise. Sie wirkt | |
fast ein bisschen schüchtern. | |
## Der Traum von einer Zukunft | |
[3][In Grodno hat Velitschko ein Kinderhospiz aufgebaut]. Im Oktober | |
vergangenen Jahres wird sie festgenommen, weil sie sich im Wahlkampf für | |
die Opposition engagiert. Man droht ihr damit, ihre beiden Kinder im Heim | |
unterzubringen, eine in Belarus gängige Methode, um Oppositionelle | |
einzuschüchtern. Sie flieht mit ihrer Familie nach Litauen. „Wir wollen | |
zurück nach Hause“, sagt sie. Dort warten ihre Arbeit, Freunde und | |
Verwandte. Aber solange sich an der politischen Situation in Belarus nichts | |
ändere, sei daran nicht zu denken. | |
Ihr Mann hat in Warschau Arbeit gefunden, die Familie pendelt zwischen | |
Litauen und Polen. Die Kinder haben Distanzunterricht und auch ihr Hospiz | |
in Grodno leitet sie online. Ihr Gehalt aus Belarus bezieht sie weiter. | |
„Das kann ich hier einfach von meinem Konto abheben“, erzählt sie. Sie habe | |
keinen Flüchtlingsstatus beantragt, denn sie seien ja politisch Verfolgte, | |
erklärt sie. Dieser Unterschied ist ihr wichtig. Sie will keine | |
Bittstellerin sein, sondern arbeiten, Geld verdienen, ihre Familie | |
ernähren. Sie träumt von einer Zukunft in Belarus. Doch die Gegenwart | |
spielt in Litauen. Und hier zimmert sich Olga Velitschko gerade einen neuen | |
Job. | |
Viele der aus Belarus Geflüchteten seien traumatisiert. Besonders Kinder | |
hätten oft panische Angst vor Polizist*innen, erzählt sie. „Ich habe von | |
kostenlosen psychologischen Hilfsangeboten für Belaruss*innen in | |
Litauen gehört. Aber ich habe keine gefunden. Darum mache ich das jetzt | |
selbst“, sagt sie. | |
Beim Treffen im Belarussischen Haus mit ihrem zukünftigen Kollegen, einem | |
ebenfalls aus Belarus geflohenen jungen Therapeuten, ist von Schüchternheit | |
nichts mehr zu spüren. Schnell und konzentriert gehen beide die nötige | |
Ausstattung eines neuen Praxisraums für die Kindertherapie durch. „Denken | |
Sie auch an eine Spielecke?“ „Ja, auf jeden Fall. Eine Massageliege wäre | |
auch gut. Und dort drüben kommen dann zwei Sessel hin.“ Wo sollen die | |
Eltern warten? Reicht ein Vorhang, um den Erdgeschossraum mit den großen | |
Fenstern gegen neugierige Blicke abzuschirmen? Die zwei wirken wie ein | |
eingespieltes Team. Hinterher wird Velitschko sagen, dass sie den jungen | |
Mann bislang nur vom Telefon kannte. | |
Olga Velitschko steht beispielhaft dafür, wie es vielen Belaruss*innen | |
in Litauen geht: Bei ihrer, oft überstürzten, Flucht waren sie sicher, bald | |
wieder zu Hause zu sein. Doch jetzt richten sie sich auf einen längeren | |
Aufenthalt in Litauen ein. Die Gegenwart ist unsicher, die Zukunft ist es | |
noch mehr. Für Kinder kommt noch erschwerend dazu, dass sie allein zu Hause | |
mit ihren Aufgaben vor dem Computer sitzen und nur schwer neue Freunde | |
finden können. | |
„Meine Kinder haben bis heute Angst vor der Polizei“, erzählt Ilona. Die | |
33-jährige alleinerziehende Mutter zweier Kinder muss im Dezember fliehen. | |
Mit sich überschlagender Stimme erzählt sie ihre Geschichte, es sprudelt | |
nur so aus ihr heraus. An diesem Tag ist sie mit anderen Belaruss*innen | |
in einer der Wohnungen verabredet, die die belarussische Diaspora mithilfe | |
von Spendengeldern angemietet hat. | |
Ilona stammt aus Soligorsk, einer Industriestadt mit 100.000 Einwohnern. | |
Noch am Wahlabend hat sie Sicherheitskräfte mit der Frage provoziert, | |
warum sie bewaffnet im Park patroullierten. Und warum das Militäraufkommen | |
in der Stadt erhöht worden sei, obgleich doch gar kein Krieg herrsche. | |
„Meine Fragen haben ihnen nicht gefallen“, erzählt die agile kleine Frau. | |
„Aber ich sehe das als meine staatsbürgerliche Pflicht, mich bei solchen | |
Dingen einzumischen.“ Noch am gleichen Abend wird sie geschlagen und auf | |
die Polizeiwache gebracht, wo man sie ohne Angabe von Gründen mehrere | |
Stunden festhält. Auch bei ihr steht die Drohung im Raum, ihre Kinder ins | |
Heim zu stecken und sie für fünf Jahre hinter Gitter zu bringen. Irgendwann | |
verliert sie das Bewusstsein, liegt vier Tage in der psychiatrischen | |
Abteilung des Krankenhauses im Koma. Als sie aufwacht, raten ihr die Ärzte | |
zur Flucht. | |
Aber Ilona bleibt und mischt sich weiter ein. „Ich habe auf Social Media | |
gepostet, wer mich geschlagen und wer Gewalt gegen andere Demonstrierende | |
ausgeübt hat“, erzählt sie. „Die Stadt ist ja klein, man kennt sich.“ B… | |
Dezember ist sie politisch aktiv, klebt Plakate, organisiert | |
Protestaktionen. Noch zwei weitere Male wird sie festgenommen. | |
## Plötzlich viele Möglichkeiten | |
Dann überschlagen sich die Ereignisse. Am 13. Dezember bekommt sie Besuch | |
vom Polizeichef: „Abends um neun stand er vor der Tür. Die Kinder wollte er | |
gleich mitnehmen. Ich habe so lange laut geschrien, bis die Nachbarn | |
herauskamen. Das hat uns gerettet.“ Noch in der Nacht bestellt sie im | |
Internet Bustickets für die Kinder und eine Freundin, die die beiden über | |
die Grenze begleiten soll. Sie selber staffiert sich am folgenden Morgen | |
mit Maske und tief ins Gesicht gezogener Kapuze aus und schafft es so, | |
unerkannt an den Sicherheitskräften vorbeizukommen. Die warten schon im | |
Treppenhaus auf sie. Es beginnt eine abenteuerliche Irrfahrt, zum großen | |
Teil per Autostopp. Der Versuch, mit einem Taxi über Russland nach Lettland | |
zu kommen, scheitert. Auch an weiteren belarussischen Grenzübergängen wird | |
sie abgewiesen, denn sie steht bereits auf der Liste der Personen, die | |
Belarus nicht mehr verlassen dürfen. | |
„Eigentlich müssen diejenigen, die auf dieser Liste stehen, aber trotzdem | |
einen Ausreiseversuch unternehmen, sofort festgenommen werden“, sagt Ilona. | |
„Ich habe dann einen hysterischen Anfall bekommen, bin auf die Knie | |
gefallen, habe geweint und geschrien. Sie waren so genervt, dass sie mich | |
nur noch loswerden wollten. Und dann haben sie mir sogar noch erklärt, wo | |
ich illegal über die Grenze komme.“ Am 17. Dezember schließlich gelingt die | |
Flucht. „Fünf Kilometer bin ich zu Fuß über ein Feld gelaufen. Ich wusste, | |
dass sie mich hätten erschießen können.“ Ihre Kinder, 6 und 13 Jahre alt, | |
sind da schon lange bei Fluchthelferin Natalja Kolegova in Sicherheit. | |
Mittlerweile gehen die Kinder in Vilnius zur Schule, alle drei sind als | |
Flüchtlinge anerkannt. Der Staat zahlt monatlich 88 Euro Unterstützung, pro | |
Kind gibt es 70. „Und kostenloses Mittagessen in der Schule“, sagt Ilona. | |
Das ist auch bitter nötig. Grundnahrungsmittel sind in Litauen zwar | |
günstiger als in Deutschland, aber viele andere Lebensmittel, Kleidung oder | |
Konsumwaren kosten häufig sogar mehr. Zu ihren Eltern in Belarus hat Ilona | |
nur wenig Kontakt. „Die sind für Alexander Lukaschenko“, sagt sie und | |
seufzt. „Sie sind vom Dorf, deshalb sind sie nicht gewöhnt, kritisch zu | |
denken.“ Ilona will in Litauen bleiben. „Ich möchte endlich leben. Nicht | |
nur überleben.“ | |
Leben, das möchte auch Alexander. „In Belarus herrscht Stillstand“, erzäh… | |
er. „Immer die gleiche Arbeit, immer der gleiche Wohnort, dazu das geringe | |
Gehalt. Du konntest nichts in deinem Leben ändern.“ Er hatte sich damit | |
arrangiert, es gab ja auch keine Alternativen. Das Gespräch mit dem | |
Installateur, der aus Mogilew stammt, findet vor einer Aufnahmeeinrichtung | |
für Geflüchtete statt. Alexander trägt ein weißes T-Shirt mit rotem | |
Handabdruck, unter einem rotem Basecap kommt ein grauer Haarschopf zum | |
Vorschein. Weiß und Rot sind die Farben der belarussischen Opposition. Beim | |
Sprechen entblößt er glänzende Metallzähne. Er ist 52 Jahre alt, wirkt aber | |
deutlich älter. | |
„Aus Neugier war ich dann mal bei einer Demonstration. Dann haben sie | |
meinem Chef gesagt, er müsse mich entlassen.“ Kurz darauf wird Alexander | |
unter falschem Namen wieder eingestellt. „Sie brauchen doch Fachkräfte wie | |
mich. Ich musste mit Maske arbeiten, damit mich keiner erkennt“, sagt er. | |
Als das zu riskant wird, geht Alexander allein über die grüne Grenze nach | |
Litauen. Seine Frau und seine ganze Familie bleiben in Belarus. Jetzt lebt | |
er im Aufnahmelager in Rukla, einem Dorf zwischen Kaunas und Vilnius. Zur | |
Zeit macht er einen kostenlosen Litauisch-Sprachkurs. Er möchte in Kaunas | |
arbeiten. Anders als im mehrsprachigen Vilnius wird dort überwiegend | |
Litauisch gesprochen – eine Sprache, die nichts gemein mit Russisch oder | |
Belarussisch hat. „Aber ich muss doch mit den Leuten reden können“, sagt | |
er. | |
Auf die Frage, ob Litauisch seine erste Fremdsprache sei, sagt er verlegen: | |
„Ja, ich glaube schon.“ So lange wie jetzt war er noch nie aus Belarus | |
fort. Er hat auch noch nie ohne seine Familie gelebt. Zum ersten Mal | |
entscheidet nur er selbst über sein weiteres Leben. „Ich habe jetzt | |
Möglichkeiten“, sagt er, und seine Stimme zittert leicht. „Das gab es | |
vorher nicht. Ich kann in Litauen bleiben. Ich könnte auch nach Warschau | |
oder Berlin.“ In einer Reklamezeitung hat er Anzeigen gesehen: Auf | |
deutschen Baustellen suchen sie Installateure, 2.500 Euro monatlich. Das | |
war in Belarus sein Jahresverdienst. | |
So unterschiedlich die Menschen auch sind, eins eint alle | |
Belaruss*innen im litauischen Exil: der grenzenlose Hass auf Alexander | |
Lukaschenko. Kein Gespräch, bei dem nicht früher oder später die Frage | |
aufkommt, wie sein Ende aussehen könnte. Stirbt er eines natürlichen Todes? | |
Wird er Opfer eines Attentats? Geht er ins russische Exil? Oder sollte er | |
seine letzten Lebensjahre in einem heimischen Knast verbringen, unter den | |
gleichen elenden Haftbedingungen wie derzeit seine Landsleute? | |
Am 7. Juli wird sein Tod vorweggenommen. Kurz vor der Grenze, an der | |
Fernstraße zwischen Litauen und Belarus, haben belarussische | |
Aktivist*innen ein Protestcamp errichtet. „Lukaschenko – Terrorist“ | |
steht dort auf großen Plakaten. Und „Gulag – 2 km“. Hier wollen sie | |
Lkw-Fahrer auf die Lage in ihrer Heimat aufmerksam machen, manchmal | |
blockieren sie auch die Straße. | |
Zum belarussischen „Iwan-Kupala-Tag“, der Feier zur Sommersonnenwende am 7. | |
Juli, bauen sie eine lebensgroße Lukaschenko-Puppe auf. Auf einem zwei | |
Meter langen Stock steckt ein Papierkopf mit einem Lukaschenkobild. Auf die | |
Hände, ausgestopfte Gummihandschuhe, malen sie mit roter Farbe Blutspuren. | |
Bei Einbruch der Dämmerung setzt sich ein Autokorso in Bewegung, aus der | |
Dachluke des ersten Wagens ragt Lukaschenko. | |
Ziel ist der Aukštojas, mit 293 Metern die höchste Erhebung Litauens, | |
unweit der Grenze zu Belarus. An die 50 Menschen sind es, die vom Parkplatz | |
aus mit rot-weißen Fahnen langsam die Anhöhe hinaufsteigen. Statt des | |
traditionellen Kupala-Feuers, in dem sonst Blumenkränze und Vogelscheuchen | |
verbrannt werden, steckt jetzt der Diktator in einer Feuerschale. Gründlich | |
übergießt ihn jemand mit Benzin. Fluchthelferin Natalja Kolegova hält eine | |
Ansprache, wie im Gottesdienst antworten die Anwesenden im Chor, den Text | |
lesen sie von ihren Smartphones ab. | |
Die Stimmung ist feierlich, fast sakral. Dann erklingt Musik und ein | |
rot-weißes Feuerwerk erleuchtet den Nachthimmel. Zu den Klängen der | |
traditionellen Kupala-Lieder brennt Lukaschenko lichterloh. | |
20 Jul 2021 | |
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Gaby Coldewey | |
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