| # taz.de -- Roman über Frauenknast: Weit unten, wo der Horror tobt | |
| > Kira Jarmysch, im Exil lebende Pressesprecherin des Kreml-Kritikers | |
| > Navalnyj, hat einen coolen Knastroman geschrieben. | |
| Bild: Weibliche Gefangene und ein Aufseher in einem russischen Gefängnis | |
| Zweifellos genießt [1][Kira Jarmysch] auch hierzulande bei der Aufnahme | |
| ihres ersten Romans einen Promibonus. Und das nicht zu Unrecht. Denn dass | |
| die 32-Jährige seit 2014 als Pressesprecherin für Alexei Nawalny arbeitet, | |
| ist teilweise ursächlich dafür, dass sie Romanautorin wurde. Nawalny, der | |
| Putinkritiker, der spätestens seit seiner Vergiftung sehr berühmt geworden | |
| ist, selbst habe sie dazu ermutigt, erzählen beide, und Jarmysch erklärte | |
| in Interviews, dass Nawalny, dem sie ihr Manuskript ins Gefängnis schickte, | |
| ihr erster Kritiker gewesen sei. | |
| In Russland erschien der Roman vor genau einem Jahr. Seine Autorin lebt | |
| mittlerweile im Exil. Nachdem Kira Jarmysch die erste Hälfte des Jahres | |
| 2021 schon im Hausarrest verbracht hatte, wurde sie im August zu anderthalb | |
| Jahren Freiheitsentzug verurteilt (offiziell wegen Verstoßes gegen | |
| Coronaregeln). Bevor das Urteil in Kraft trat, gelang ihr gerade noch die | |
| Ausreise. | |
| Selbst wenn der Hintergrund ein anderer wäre: „Dafuq“ ist ein Roman, der | |
| die Aufmerksamkeit verdient hat, die er bekommt. (Der Titel ist eine | |
| phonetische Umschreibung von „… the fuck!“. Der russische Originaltitel | |
| lautet, deutlich konventioneller, „Unglaubliche Geschehnisse in der | |
| Frauenzelle Nr. 3“.) Seine autobiografischen Bezüge sind für die Lektüre | |
| nicht relevant, waren aber für seine Entstehung unabdingbar, denn Kira | |
| Jarmysch verarbeitet darin eigene Erfahrungen von Aufenthalten in einer | |
| Arrestzelle: | |
| ## Im Knast wegen Demo-Aufruf | |
| Zehn Tage sind Anja, der Heldin des Romans, aufgebrummt worden, nachdem sie | |
| auf einer Anti-Korruptions-Demonstration verhaftet worden ist. Dabei hatte | |
| sie nichts weiter getan, als den Demo-Aufruf zu reposten. In der Zelle, in | |
| die sie gesteckt wird, haben sich bereits fünf weitere Frauen eingerichtet, | |
| alle zu kurzen Haftstrafen verurteilt wegen Kleinigkeiten; meist wegen | |
| Fahrens ohne Führerschein. Eine sitzt wegen einer Schlägerei, eine wegen | |
| Diebstahls – sie ist die einzige, die auch schon Erfahrungen im Straflager | |
| gesammelt hat. | |
| Anja, die einzige „Politische“ unter den Insassinnen, fügt sich, so gut es | |
| geht, ein in das vorübergehende Sozialgefüge von Zelle Nummer 3, hört oft | |
| nur zu, was die anderen erzählen, beteiligt sich selten an den Spielen, mit | |
| denen die Frauen sich die Zeit vertreiben, arrangiert sich zu ihrem eigenen | |
| Erstaunen aber recht schnell mit der Lage. Und obwohl die Tage im Arrest | |
| sich so gleichförmig dahinziehen, zuverlässig unterteilt durch die | |
| regelmäßigen Mahlzeiten und den Hofgang (aber geduscht wird nur | |
| donnerstags), liest der Roman sich ausgesprochen kurzweilig. | |
| Anjas Mitgefangene, jede von ihnen ein schillerndes Unikum an | |
| Persönlichkeit und Lebensgeschichte, werden zu narrativen Fenstern in die | |
| russische Gesellschaft. Da gibt es die spindeldürre, stets schlecht | |
| gelaunte Natascha, die so etwas wie die Kümmerin in der Zelle ist; die | |
| dafür sorgt, dass immer heißes Wasser für Tee da ist, und die einer | |
| unsympathischen Wärterin aus Rache für miese Behandlung ein Silberkettchen | |
| klaut („Weißt du denn noch, wofür ich gesessen habe? Genau dafür“, sagt … | |
| zu der erstaunten Anja). | |
| ## Lieber Fasten als Knastessen | |
| Dann die lebenslustige, dunkelhäutige Diana, die rassistische Bemerkungen | |
| männlicher Arrestanten selbstbewusst kontert und mit 25 schon zum dritten | |
| Mal verheiratet ist. Die Säuferin Irka freut sich, dass sie im Arrest keine | |
| Gelegenheit zum Trinken hat, und isst wie ein Scheunendrescher, während die | |
| durch zahlreiche Schönheitsoperationen zur Superfrau gestylte Maja, die | |
| sich als Escortdame sonst von Hummer und Kaviar zu ernähren pflegt, das | |
| Knastessen nicht anrührt und lieber fastet. | |
| Über Anja, aus deren Perspektive der Roman ausschließlich erzählt wird, | |
| erfahren wir lange Zeit wenig. Doch je leerer die Zelle wird – denn nach | |
| und nach werden alle entlassen –, desto mehr Zeit bleibt zur | |
| Introspektion, und es entfaltet sich die Vorgeschichte der Protagonistin: | |
| Aufwachsen in der Provinz, schwierige Vaterbeziehung, Studium an Elite-Uni, | |
| komplizierte Liebesgeschichte zu dritt. | |
| Die Politisierung der Heldin wird im Vergleich eher kursorisch abgehandelt. | |
| Was Anja allerdings erst in der Haft so recht begreift, sind ihre | |
| gesellschaftlichen Privilegien. Bisher war sie nie so unverhohlen | |
| sexistisch angemacht worden wie von den Männern im Arrest: | |
| ## Arrest als Lebensschule | |
| „Sie war oben an der Spitze einer Pyramide, wo man aufgeklärte Diskussionen | |
| führen konnte. Dieser Gipfel war dünn wie eine Nadel, und weiter unten | |
| tobte der wahre Horror, wo die Frauen um ihr Recht auf Unversehrtheit und | |
| Leben kämpfen mussten.“ Der Arrest ist zur Lebensschule geworden und in der | |
| Folge, durch diesen Roman, auch zur Bühne für ein humoristisch grundiertes, | |
| klarsichtiges Gesellschaftsstück. | |
| Sicher ist „Dafuq“ auch ein politischer Roman, aber mehr auf implizite als | |
| auf explizite Art. Und das ist gut so. Eine kurze, beinahe komische Episode | |
| vor Gericht, in der Anjas Antrag auf Berufung ohne Begründung abgelehnt | |
| wird, macht deutlich genug, was von der russischen Gerichtsbarkeit zu | |
| halten ist. | |
| 23 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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