# taz.de -- Sergej Lebedews Roman über Giftmord: Gift aus Russland wirkt von i… | |
> Im Agententhriller „Das perfekte Gift“ verarbeitet Sergej Lebedew die | |
> russischen Auftragsmorde der letzten Jahre. | |
Bild: Salisbury/England: hier wurde der frühere Geheimagent Sergej Skripal ver… | |
Als ein [1][russischer Ex-Agent und Überläufer] in den Westen nach einem | |
scheinbaren Wespenstich tot in einem Lokal zusammenbricht, schafft er es | |
noch, dem herbeigeeilten Kellner zuzuflüstern, dass ein Anschlag auf ihn | |
verübt worden sei. Weil der Kellner einst Polizist war, wird der Sache | |
nachgegangen und herausgefunden, dass der Mann mit einem so hochwirksamen | |
wie schwer nachweisbaren Spezialgift umgebracht wurde. | |
Die Spur führt in russische Labore. Zur genauen Untersuchung des Falls | |
stellt man ein Expertenteam zusammen, zu dem auch ein anderer | |
exsowjetischer Überläufer gehören soll, der hochrangige Chemiker Kalitin, | |
der einst tödliche Gifte erforscht und entwickelt hat. Durch diesen Vorgang | |
gerät Kalitin, der seit vielen Jahren unbehelligt in einem einsam gelegenen | |
Haus in den Bergen lebt, in den Fokus des russischen Geheimdienstes. Zwei | |
Offiziere werden losgeschickt, um ihn zu liquidieren. | |
Diese Rohdaten des Handlungsgerüsts könnten den Schluss nahelegen, dass | |
[2][Sergej Lebedew mit „Das perfekte Gift“] einen Agententhriller | |
geschrieben habe. Und zweifellos enthält der Roman die Grundelemente eines | |
solchen. Zahlreiche Andeutungen zu prominenten Vergiftungsfällen der | |
letzten Jahre (Litwinenko, Skripal) sind mit eingeflossen, und auch | |
ansonsten sind historische Daten, Namen und Vorfälle, auf die im Roman | |
Bezug genommen wird, der außerfiktionalen Wirklichkeit entnommen. | |
Inwieweit hingegen die Beschreibung der Praktiken in sowjetischen oder | |
russischen Giftchemielabors der historischen Realität entspricht, ist | |
natürlich schwer zu sagen; und auch der Autor selbst wird diese Teile des | |
Romans, die von zahllosen gequälten Tieren erzählen und sogar von | |
Menschenversuchen raunen, aus seiner Fantasie geschöpft haben, um sie zu | |
den fiktiven Erinnerungen des alternden Kalitin zu machen, der in seinem | |
äußeren Exil innerlich vor allem in der Vergangenheit lebt. | |
## Geheime sowjetische Forschungsstadt | |
Wie ein Gift von innen wirkt, so erzählt Lebedew auch diesen Roman von | |
innen heraus, aus den mentalen Welten zweier Protagonisten, deren Lebens- | |
und Arbeitsumstände sie zu Monstern in Menschengestalt gemacht haben. Auf | |
der einen Seite steht eben jener Kalitin, der, aufgewachsen in einer | |
geheimen sowjetischen Forschungsstadt als protegierter Verwandter eines | |
einflussreichen Wissenschaftlers im Bereich chemischer Kampfmittel, stets | |
nur diese Art von Existenz gekannt hat. | |
Fragen ethischer Art stellen sich bei der Arbeit, der er sein Leben | |
gewidmet hat, schlicht deswegen nicht, weil sie verboten sind. Sein | |
Gegenspieler und die zweite Hauptfigur des Romans ist einer der | |
Geheimdienstoffiziere, die mit Kalitins Liquidierung beauftragt sind: ein | |
skrupelloser Folterknecht mit einer Vergangenheit im Tschetschenienkrieg, | |
der es gegen seinen eigenen Willen nicht einmal schafft, beim | |
Paintballspiel mit dem halbwüchsigen Sohn die Tötungsinstinkte des Soldaten | |
in sich vorübergehend zu zügeln. | |
Sergej Lebedew, der bereits mehrere Romane geschrieben hat, in denen er | |
russische historische Traumata gleichsam auf eine höhere, poetisch | |
durchleuchtete Ebene hebt, verfährt auch mit dem Thema der staatlichen | |
Auftragsmorde in ähnlicher Weise. Aus Sicht seiner beiden durch und durch | |
nihilistischen Protagonisten zu erzählen und diese Erzählungen in genau | |
beobachtende, dabei innere Ängste zulassende Weltbetrachtungen einzubinden, | |
konterkariert in mancher Weise das herkömmliche Bild des klassischen | |
Buchbösewichts. | |
Der hohe Ton, der den Roman durchzieht, veredelt auch das Böse – oder | |
vielmehr: bringt es auf eine Ebene mit allem anderen, das in der Welt ist. | |
Denn auch diese hier, die mit vollem Bewusstsein Übles tun und keine Schuld | |
dabei empfinden, sind Menschen. Dass der Autor sie in diesem Roman | |
schließlich vor eine Art letztes Gericht stellt, versteht der eine von | |
ihnen vielleicht. Der andere eher nicht. Aber dass die Möglichkeit einer | |
Art von metaphysischer Gerechtigkeit zumindest angedeutet wird, wirkt am | |
Ende der Lektüre tatsächlich etwas tröstlich. | |
13 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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