# taz.de -- Autor Lebedew über russische Opposition: „Russland muss dekoloni… | |
> Der russische Autor Sergej Lebedew lebt im Exil in Deutschland. Im | |
> Gespräch erklärt er, warum die russische Opposition ein schlechtes Bild | |
> abgibt. | |
Bild: Etwa jeder vierte Mensch in Russland ist kein ethnischer Russe, sagt Serg… | |
taz: Herr Lebedew, wenn man die jüngsten Gespräche zwischen den USA und | |
Russland und das [1][Telefonat zwischen Trump und Putin] betrachtet: | |
Welchen Plan verfolgt Putin? | |
Sergej Lebedew: Ich denke, er will diese „Verhandlungen“ auf eine ganz | |
bestimmte Art und Weise scheitern lassen. Er will die USA und die Ukraine | |
hinhalten, um irgendwann zu erklären, dass mit Selenskyj eben keine | |
Einigung zu erzielen ist. Putin erklärt die ganze Zeit, dass die Ukraine | |
bestimmte Bedingungen erfüllen soll, denen aber die Ukraine nie und nimmer | |
zustimmen kann. Es ist eine Verzögerungstaktik. | |
taz: Wie würden Sie die letzten [2][„Friedens“-Initiativen] seitens der USA | |
insgesamt bewerten? | |
Lebedew: Als einen Verrat an der Ukraine. Nicht nur an der Ukraine, auch an | |
der Gerechtigkeit. Die Gespräche verliefen in den vergangenen Wochen so, | |
als würden Verantwortung und Schuld auf beiden Seiten liegen, der | |
russischen und der ukrainischen. | |
taz: Sie leben im Exil. Wenn wir heute über die russische Opposition im | |
Exil sprechen, von wem reden wir dann? Von vereinzelten kleinen Zirkeln? | |
Lebedew: Ja. [3][Eine geeinte Exilopposition existiert nicht]. | |
Einflussreich sind der Kreis um Michail Chodorkowski und die Leute aus dem | |
Nawalny-Team. Beide sind aber nicht in der Lage, eine gemeinsame Agenda zu | |
formulieren. Und beide sagen nicht klipp und klar, dass sie die Ukraine | |
unterstützen. Julija Nawalnaja hat ausweichend reagiert, als sie nach den | |
westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine gefragt wurde. Nawalny selbst | |
erwähnte den Krieg gegen die Ukraine sehr selten, er konzentrierte sich auf | |
die innerrussische Korruption. Ich denke, nur der Zirkel um Garri Kasparow | |
befürwortet die westlichen Militärhilfen für die Ukraine ohne Wenn und | |
Aber. | |
taz: Was ist mit jenen Oppositionellen, die im Zuge [4][des | |
Gefangenenaustauschs im Sommer 2024] freigekommen sind? | |
Lebedew: Dazu muss man sagen, dass Deutschland bekanntlich im Gegenzug | |
Wadim Krassikow freigelassen hat; jemanden, der auf deutschem Territorium | |
gemordet hat. Meines Wissens hat sich keine der Personen, die freigelassen | |
wurden, jemals öffentlich an die Familie des Opfers gewandt und sich | |
entschuldigt. Die Verwandten bleiben mit dieser Ungerechtigkeit zurück. Wir | |
brauchen aber dringend diese Form der moralischen Klarheit. Da haben wir | |
ein riesiges Defizit. | |
taz: Stützen all die Oppositionellen wie Wladimir Kara-Mursa, Ilja Jaschin | |
und Julija Nawalnaja imperiale und koloniale russische Narrative? | |
Lebedew: Nicht aktiv. Ich glaube, sie kümmern sich einfach nicht allzu sehr | |
darum. Sie konzentrieren sich ausschließlich auf Russ*innen in Russland. | |
Antikoloniale oder antiimperialistische Initiativen betrachten sie wohl | |
auch als potenziell gefährlich, weil Putin diese als Schreckgespenst an die | |
Wand malt und man die russische Gesellschaft nicht überfordern dürfe. Mit | |
den ethnischen Minderheiten gibt es auch keinen echten Dialog. Sie sind | |
also in gewisser Weise politisch pragmatisch und wollen keine potenziellen | |
Wähler*innen abschrecken. Was sie sicher nicht wollen: eine vielfältige | |
und inklusive Gesellschaft aufbauen. Was sie alle eint: Sie haben keine | |
politische Vision für Russland. | |
taz: Das Nawalny-Team hat sehr viele Anhänger*innen. | |
Lebedew: In Europa sicher nicht! Schauen Sie sich doch an, wie viele | |
Menschen zum Beispiel die iranische Opposition regelmäßig in europäischen | |
Städten auf die Straße bringt. Dagegen ist die russische Opposition leider | |
ein Witz. | |
taz: Worin sehen Sie die Aufgabe der russischen Exilopposition? | |
Lebedew: Wir sollten schon jetzt darauf hinarbeiten, dass das Putin-Regime | |
und die Mittäter*innen eines Tages bestraft werden. Wir dürfen nicht | |
den Fehler der Post-Perestroika-Zeit wiederholen: Die Anstrengung der | |
Zivilgesellschaft war am Gedenken und nicht an der Wiederherstellung der | |
Gerechtigkeit ausgerichtet. Es muss um Gerechtigkeit für die Ukraine gehen. | |
Wir werden in Russland eine riesige Gruppe von Menschen vorfinden, die | |
direkt oder indirekt am Krieg beteiligt waren: Soldat*innen, | |
Transportarbeiter*innen, Verwaltungsangestellte. Alle werden jede | |
Verantwortung ablehnen. Sie werden behaupten, dass es ein gerechter Krieg | |
war, den es zu führen galt. | |
taz: Es bräuchte weitreichende Gerichtsverfahren, jahrzehntelange | |
juristische Ausdauer wie nach der NS-Zeit? | |
Lebedew: Ich hoffe, es wird ein internationales Tribunal geben. Wir werden | |
sehen, wie realistisch das ist. | |
taz: In einer Welt, in der die Imperialmächte wieder aufleben, scheint | |
Gerechtigkeit für die Ukraine ein hehres und weit entferntes Ziel. | |
Lebedew: Das stimmt. Einfacher ist es, sich vorzustellen, dass es nach | |
Kriegsende einen Friedensvertrag geben wird und einige Sanktionen | |
aufgehoben werden. Denkbar ist, dass russische Kriegsverbrecher dann wieder | |
unbehelligt durch die Welt reisen. Das darf nicht passieren. Das Signal | |
sollte sein: Ihr seid nicht willkommen, über Jahre hinweg. Dafür sollte die | |
russische Opposition sich einsetzen. Aber sie wird das nicht tun, denn man | |
gilt schon als Verräter*in, wenn man als russische*r Staatsbürger*in | |
die Sanktionen unterstützt. | |
taz: Sie haben kürzlich den Sammelband „Nein! Stimmen aus Russland gegen | |
den Krieg“ veröffentlicht. 25 russische und belarussische Autor:innen | |
sind beteiligt. Wie viele davon leben noch in Russland? | |
Lebedew: Drei. Einige sind früher gegangen, wie ich oder Nikolai Kononow. | |
Andere, wie Jegana Dschabbarowa, sind erst 2023 gegangen. Wir alle haben | |
verschiedene Phasen erlebt, wie sich dieser autoritäre Staat entwickelt | |
hat. | |
taz: Es gibt einige kafkaeske und orwellsche Erzählungen im Band. Kann man | |
über Russland im Inneren nur auf absurde Art und Weise schreiben? | |
Lebedew: Das würde ich nicht sagen. Es finden sich ja auch einige | |
realistische Geschichten in der Anthologie. Sie sind von großer Bedeutung. | |
Denn sich völlig ins Reich der Fiktion und Fantasie zu begeben, ist | |
einfacher, als das Geschehen in Russland realistisch darzustellen. Es gibt | |
aber nun mal diese nackte Realität der Gewalt: Dissident*innen werden | |
weggesperrt und gequält, ukrainische Kriegsgefangene werden in russischen | |
Gefängnissen schwer gefoltert. Sich dieser Gewalt direkt zu stellen und sie | |
so zu beschreiben, ist sehr schwierig. Wenn man aber die Propaganda | |
entlarven will, kann auch absurde Fiktion das richtige Mittel sein. | |
taz: Was wollen Sie mit der Anthologie erreichen? | |
Lebedew: Sie soll ein Anfang sein. Wir haben jetzt eine Gemeinschaft von | |
Autor*innen, die untereinander im Austausch stehen. Das muss fortgesetzt | |
werden. Ein Vorbild ist für mich die Gruppe 47, die nach der NS-Zeit nach | |
neuen Formen der Literatur und der Verständigung suchte. | |
taz: Die Gruppe 47 formierte sich zwei Jahre nach dem Ende des NS-Regimes. | |
Haben wir nicht jetzt eine völlig andere Situation? | |
Lebedew: Ja, aber wir können nicht warten. So nach dem Motto: Okay, jemand | |
anderes wird Putins Regime beenden. Wir haben hier ein totalitäres Regime, | |
das über nukleare Waffen verfügt. Solange es militärisch nicht möglich ist, | |
Russland zu besiegen, muss man alle anderen Anstrengungen unternehmen, | |
mögen sie noch so aussichtslos erscheinen. In diesem Sinne können wir auch | |
Kultur und Literatur einsetzen. Wir 25 Autoren sind ein kleiner Teil der | |
russischen Literaturszene, wir müssen uns auch gegen jene klassische | |
russische Kultur stellen, die die imperiale Erzählung stützt. Puschkin und | |
Tolstoi sind vom Regime sehr einfach zu instrumentalisieren, weil ihren | |
Werken das Großrussische inhärent ist. Unsere eigentliche Aufgabe besteht | |
darin, das imperiale Wesen in uns selbst zu erkennen und zu versuchen, es | |
zu töten. | |
taz: Die politische und die kulturelle Sphäre Russlands scheinen völlig | |
getrennt voneinander zu existieren. Kann ein Intellektuellenzirkel | |
überhaupt etwas ausrichten? | |
Lebedew: Man spricht nicht umsonst von „politischer Kultur“. Eine | |
zivilisierte politische Kultur in Russland existiert nicht. Politik und | |
Kultur gehören zusammen; die Fähigkeit, andere zu sehen, anzuerkennen und | |
zu integrieren, ist die Aufgabe der Kultur eines Landes. Alle Politik | |
leitet sich davon ab. | |
taz: Wie sieht Ihre Vision einer politischen Kultur in Russland aus? | |
Lebedew: Russland muss dekolonisiert werden. Etwa jeder vierte Mensch in | |
Russland ist kein ethnischer Russe, es gibt zahlreiche Minderheiten, | |
Awaren, Tataren, Burjaten, Darginer, Udmurten und so weiter. Nichtrussische | |
Russen müssten mit einer Stimme sprechen, denn es ist nicht nur die | |
Ukraine, die jahrhundertelang unterdrückt wurde. Es geht nicht nur darum, | |
dass die Minderheiten aufbegehren und protestieren – was derzeit schwer | |
möglich ist –, sondern auch um einen langen Prozess des Umdenkens in Bezug | |
auf die Geschichte und die Identitäten der in Russland lebenden Menschen. | |
taz: Stehen Sie in Kontakt mit ukrainischen Intellektuellen? | |
Lebedew: Ja. | |
taz: Wie verläuft dieser Austausch? | |
Lebedew: Der findet auf persönlicher Basis statt. Wir sollten die | |
persönlichen Beziehungen aufrechterhalten, das ist wichtig. Ich kann aber | |
jeden ukrainischen Autor verstehen, der nicht öffentlich mit einem | |
russischen Autor auftreten will. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für | |
Kulturdiplomatie. Irgendwann wird diese Zeit vielleicht kommen. | |
23 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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