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# taz.de -- Porträts vier Befreiter: Tausche Mörder gegen Oppositionelle
> Beim Gefangenenaustausch mit Russland kamen 24 Menschen frei. Darunter
> sind Oppositionelle, ein Auftragskiller und ein Tourist mit Cannabis im
> Gepäck.
Bild: Evan Gershkovich umarmt seine Mutter Ella Milman nach seiner Freilassung …
In dem größten Gefangenenaustausch seit Ende des Kalten Krieges sind
insgesamt 24 Menschen freigekommen. Während Russland und Belarus
Journalist:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und westliche
Tourist:innen zum Tausch anbot, entsandte der Westen Profikiller und
Spion:innen. Vier der Befreiten stellen wir im Porträt vor.
## Ilja Jaschin
Ein erstes Foto nach seiner Freilassung postete der russische
Oppositionspolitiker am frühen Freitagmorgen auf seinem Telegram-Kanal.
„Ich werde bald alles erzählen. In der Zwischenzeit vielen Dank an alle,
die sich Sorgen gemacht haben. Ich umarme Euch alle“, schreibt Jaschin.
Er ist seit 2000 politisch aktiv, war damals Vorsitzender des Jugendflügels
der liberalen Partei Jabloko. Später wurde er Kommunalpolitiker für die
„Bewegung Solidarnost“. Unter dem Motto „Russland ohne Putin“ stand er …
gemeinsam mit dem drei Jahre später ermordeten Politiker Boris Nemzow und
[1][Kremlkritiker Alexei Nawalny] an der Spitze von wochenlangen
Straßenprotesten gegen die manipulierten Parlamentswahlen von 2011. Obwohl
der Druck größer und eine Festname immer wahrscheinlicher wurde, blieb
Jaschin in Russland.
Am 9. Dezember 2022 wurde er von einem Moskauer Gericht wegen Verbreitung
von „Falschnachrichten“ über die Armee zu achteinhalb Jahren Straflager
verurteilt. Er hatte einen Stream über das Massaker russischer Truppen an
Zivilist*innen im Kyjiwer Vorort Butscha im Frühjahr 2022 in Umlauf
gebracht. Auch eine Geldstrafe in Höhe von umgerechnet rund 350 Euro wurde
Jaschin, der zum „ausländischen Agent“ erklärt wurde, auferlegt.
Sein Vergehen: Er hatte ein Foto aus dem Jahr 1969 von Protesten gegen den
Krieg in Vietnam veröffentlicht. „Für den Frieden zu bomben ist, als würde
man um der Jungfräulichkeit willen ficken. 50 Jahre sind vergangen, aber
diese Slogans sind immer noch relevant“, hatte er darunter geschrieben.
Ende Dezember 2023 gab er der Wochenzeitung Sobesednik ein Interview. Er
werde einem Gefangenenaustausch nicht zustimmen, sagt er darin. Ob er seine
Meinung geändert hat, ist nicht überliefert.
## Wadim Krassikow
Als Wadim Krassikow in Moskau als erster die Treppe vom Flugzeug zum
Rollfeld hinuntergeht, wartet unten Russlands Präsident Wladimir Putin.
Dieser reicht Krassikow erst die Hand, dann umarmt er ihn. Krassikow, der
sogenannte Tiergarten-Mörder, ist ein Profikiller, der [2][im Auftrag
Russlands] getötet hat. Und der Mann, um den es Putin bei dem Austausch vor
allem ging.
Krassikow, ein Mann mit Glatze und Kinnbart, ist 58 Jahre alt und Offizier
des russischen Geheimdiensts FSB, er soll Mitglied einer kleinen
Eliteeinheit gewesen sein, die auf Oppositionelle im Ausland angesetzt war.
Am 23. August 2019 hat er zur Mittagszeit im Kleinen Tiergarten in Berlin
einen Georgier tschetschenischer Abstammung ermordet, der in Deutschland
Schutz gesucht hatte.
Krassikow war mit dem Fahrrad gekommen, hatte zweimal von hinten geschossen
und als sein Opfer am Boden lag, noch einmal auf den Kopf. Weil Zeugen die
Polizei riefen, wurde er noch auf der Flucht festgenommen. In der Datenbank
von Interpol fanden Ermittler einen russischen Haftbefehl wegen eines
ähnlichen Mordes in St. Petersburg gegen Krassikow, der gelöscht worden
war.
Ende 2021 verurteilte ihn das Berliner Kammergericht zu lebenslanger Haft
und stellte die [3][besondere Schwere der Schuld] fest. Das schließt eine
vorzeitige Entlassung eigentlich aus.
Um Krassikow freizukriegen, hatte Putin Geiseln genommen und ein [4][großes
Erpressungspotenzial] angehäuft. In der Bundesregierung allerdings war der
Austausch umstritten, Außenministerin Annalena Baerbock soll starke Zweifel
geäußert haben, auch der Generalbundesanwalt war dagegen. Erst nach langen
Abwägungen und einer direkten Anfrage von US-Präsident Joe Biden an
Bundeskanzler Olaf Scholz soll dieser das Go gegeben haben. Justizminister
Marco Buschmann wies den Generalbundesanwalt entsprechend an. Krassikow
durfte fliegen.
## Patrick Schöbel
Die Suche nach einer neuen Partnerin wurde ihm zum Verhängnis. Mitten im
Krieg gegen die Ukraine hatte der 38-jährige Hamburger Patrick Schöbel im
Internet eine Frau kennengelernt. Am 16. Januar 2024 war er nach St.
Petersburg gereist, um sie zum ersten Mal zu treffen. Doch dazu kam es
nicht. Bei seiner Ankunft wurde Schöbel festgenommen, weil man eine kleine,
abgegriffene Tüte Gummibärchen mit einem Marihuanablatt darauf gefunden
hatte.
„Fink Green Goldbears“ können in Deutschland legal erworben werden. In
Russland wird Schmuggel und Besitz von Cannabis mit bis zu sieben Jahren
Haft geahndet. Auf Bodycam-Aufnahmen von seiner Festnahme kann man hören,
wie er die Fragen der Grenzkontrolle mit „das ist verdammtes Weingummi“
beantwortete. Die Süßigkeiten habe er schon ein Jahr zuvor gekauft, um sie
„für einen erholsamen Schlaf“ auf langen Flügen zu essen.
„Geruch stechend, Gewicht 19,35 Gramm“, notierte der Zollbeamte zu den
sechs Gummitieren. Ein Schnelltest bestätigte, dass sie den
Cannabis-Bestandteil THC enthielten. In St. Petersburg stand Schöbel vor
dem Bezirksgericht. Kurz nach der Festnahme [5][warnte das Auswärtige Amt]
auf Instagram in Bezug auf den Fall vor Reisen nach Russland. Die
diplomatischen Möglichkeiten seien hier begrenzt. „Anders als in
Hollywood-Filmen können wir Euch nicht einfach irgendwo aus dem Gefängnis
holen. Russland ist derzeit nicht das beste Reiseziel für ein erstes Date
mit dem Online-Flirt.“
## Anna Dulzewa und Artjom Dulzew
Der 1. August 2024 wird gewiss bald als Thriller verfilmt. Aus dem Stoff
dieser Agentenfamilie kann man eine ganze Serie drehen, wie in der
US-Produktion „The Americans“, in der ein KGB-Paar mit seinen beiden
Kindern in den USA lebt und dort agiert (aka mordet).
[6][Dulzew und Dulzewa] lebten in Slowenien unter den Decknamen Ludwig
Gisch und María Mayer Muños. Das Wall Street Journal schildert ihre Jahre
in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana als scheinbar gewöhnliches
Vorstadtleben. Das Paar sprach mit seinen beiden Kindern (von der taz
verpixelt) Spanisch und schickte sie auf die British International School.
Artjom Dulzew ist aber offenkundig ein Offizier des russischen
Auslandsgeheimdienstes SVR aus Baschkortostan, Anna Dulzewa, eine
SVR-Offizierin aus Nischni Nowgorod. Von Slowenien aus hatten die beiden
einen Zugang zur EU und koordinierten andere russische Agent:innen in
Europa. Als sie Ende 2022 verhaftet wurden, fand man in einem Geheimfach im
Kühlschrank Hunderttausende Euro. Ihre Kinder wurden nach der Verhaftung
bei Pflegeeltern untergebracht. Gemeinsam flogen sie jetzt nach Russland.
2 Aug 2024
## LINKS
[1] /Nawalny-Witwe-reagiert-auf-Haftbefehl/!6022968
[2] /Politischer-Mord-in-Berlin-Tiergarten/!5716096
[3] /Urteil-im-Tiergartenmord-Prozess/!5822490
[4] /Gefangenenaustausch-mit-Russland/!6024251
[5] /Inhaftierte-als-Druckmittel-in-Belarus/!6024043
[6] /Die-ausgetauschten-Gefangenen/!6027619
## AUTOREN
Sabine am Orde
Barbara Junge
Gaby Coldewey
Barbara Oertel
## TAGS
Straflager
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