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# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Russifizierung von Ruinen
> Die russische Besatzungsbehörde zerstört auf der Krim eine antike
> griechische Ausgrabungsstätte. Dort lässt sie historisierende Neubauten
> entstehen.
Bild: Keine Ruinen mehr: Die russischen Besatzungsbehörden lassen Chersones wi…
Rückblick 2013: Die groben Steine am Strand waren etwas glitschig. Wer sich
in die kühlen Wellen des Schwarzen Meeres werfen wollte, musste vorsichtig
sein. Erfahrene Strandbesucher hatten entsprechendes Gummischuhwerk dabei.
Die Vermieterin hatte die Stelle empfohlen: Dort sei das Wasser sauberer
als an den anderen Stränden in Sewastopol. Und es gebe noch etwas zu sehen.
Damit meinte sie nicht die Schiffe der omnipräsenten russischen
Schwarzmeerflotte, die in der Bucht auf dem Weg zum Strand schon vor der
Annexion der Krim 2014 vor Anker lagen. Der seinerzeit amtierende
prorussische Präsident der Ukraine, Wiktor Janukowitsch, hatte den
Pachtvertrag für den Hafen bis 2042 verlängert.
Durch die Straßen flanierten die russischen Matrosen in Uniform. Der
Taxifahrer hatte eine russische Trikolore auf dem Armaturenbrett
angebracht. Und russische Touristen erzählten im Hotel, dass es das Land,
in dem sie gerade Urlaub machten, gar nicht gäbe und seine Sprache keine
Sprache sei, sondern ein Dorfdialekt.
Die Vermieterin meinte das Areal gleich neben dem Strand: die antike
Ausgrabungsstätte Chersones. Zwischen Strand und einem Hügel, auf dem die
orthodoxe Wladimirkathedrale aus dem 19. Jahrhundert stand, befinden sich
auf 260 Hektar die Überreste einer antiken griechischen Stadt.
Hauptsächlich die Fundamente von Außenmauern, Reste einer dicken
Festungsmauer und weiter hinten Säulen, die mal zu einem Tempel gehört
haben. Das Schachbrettmuster des Straßennetzes war gut zu erkennen. Wenige
Wochen zuvor war das Areal in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes
aufgenommen worden.
## Die Ausgrabungsstätte sei praktisch zerstört
Elf Jahre später sieht es anders aus in der antiken Ausgrabungsstätte. Wie
die Ukrajinska Prawda kürzlich berichtete, lassen die russischen
Besatzungsbehörden umfangreiche Bauarbeiten durchführen. Die
Ausgrabungsstätte sei praktisch zerstört. Auf Fotos sieht man Arbeiter und
einen Kran am Rohbau eines palastartigen Gebäudes mit historisierender
Fassade. Außerdem sind Tribünen eines modernen Amphitheaters auf die
antiken Fundamente gebaut worden.
[1][Gegründet wurde Chersones vor rund 2.500 Jahren von griechischen
Siedlern] als einer von mehreren Handelsplätzen am Nordufer des Schwarzen
Meeres. Später gehörte es zum Römischen und Byzantinischen Reich und zur
Republik Genua. Zerstört wurde die Stadt um 1400 bei einem mongolischen
Angriff.
Nachdem Russland die Krim 1783 erobert hatte, wurden um 1820 die ersten
Ruinen ausgegraben. Die ähnlich klingende Großstadt Cherson an der Mündung
des Dnipro ist Ende des 18. Jahrhunderts gegründet worden.
Evelina Kravchenko schlägt Alarm. Sie ist die leitende Forscherin am
Institut für Archäologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der
Ukraine. Ihr zufolge ersetzen die Russen die ursprünglichen
Sehenswürdigkeiten durch neue Gebäude und zerstören so ihre Authentizität.
Schäden irreversibel
„Der Schaden ist unglaublich und irreversibel. Der wichtigste Teil einer
antiken Stätte zur wissenschaftlichen Forschung ist zerstört“, sagte sie
der taz. Ob Chersones damit für das Welterbe verloren ist, müsste
untersucht werden.
Kürzlich sprach Kravchenko darüber auch auf einer Tagung des Crimea
Platform Expert Network in Kyjiw. „Die meisten der gefundenen Artefakte
wurden in Museen nach Russland gebracht. Darunter sind Fresken, Geschirr,
Haushaltsgegenstände und Ikonen.“ Anschließend habe der Bau des sogenannten
archäologischen Parks „Neues Chersones“ an der Stelle der Überreste der
Nekropole begonnen.
Vor der russischen Okkupation hatten dort noch Ausgrabungsarbeiten
stattgefunden. Bei den Bauarbeiten seien anschließend in Unkenntnis der
geologischen Situation auch schwere Baumaschinen eingesetzt worden.
„Irgendwie haben sie dort eine alte Quelle ausgegraben, sodass alles
überflutet wurde.“ Sie zeigte Fotos von Baggern und Bulldozern auf dem
Areal sowie betonierte Wege, Parkplätze und neue Gebäude. Es sieht aus wie
ein russisches Disneyland.
Das Vorgehen ist kein Einzelfall. „Es erinnert an die Zerstörung des
Khan-Palastes in Bachtschysaray“, so Kravchenko. Der Khan-Palast gehört
seit 2003 zum Unesco-Weltkulturerbe. Die ältesten Gebäudeteile stammen aus
dem 16. Jahrhundert. Der Palast war als Stammsitz der Monarchen des
Krim-Khanats das politische, religiöse und kulturelle Zentrum der
Krimtataren – bis die Halbinsel 1783 zum ersten Mal von Russland okkupiert
wurde.
Nach der [2][Krimannexion 2014] ließ die russische Besatzungsverwaltung an
dem geschützten Gebäudekomplex umfangreiche Bauarbeiten ausführen. Kritik
daran kam im vergangenen Jahr auch von der Gesellschaft für bedrohte
Völker. „Im Schatten des Krieges zerstören die russischen Besatzer
mutwillig Kulturdenkmäler der indigenen Krimtataren. Damit wollen sie die
falsche Behauptung unterstreichen, die Krim hätte schon immer zu Russland
gehört“, so Osteuropaexpertin Sarah Reinke.
Den russischen Umgang mit dem kulturellen Erbe beobachtet auch der
Wissenschaftler Jan Claas Behrends. Der Historiker ist Professor an der
Europauniversität Viadrina in Frankfurt (Oder). „Denkmalschutz hat für
Russland ohnehin keinen hohen Stellenwert mehr“, sagt er.
Zivilgesellschaftlicher oder wissenschaftlicher Protest sei nicht möglich.
Auf der Krim sei der Umgang mit dem historischen Erbe Teil der Strategie
zur Russifizierung der besetzten Halbinsel.
## „Man versucht, sich die Krim zu schaffen, die man haben will“
„Man versucht sich die Krim zu schaffen, die man haben will und die dem
eigenen Geschichtsbild entspricht“, sagt Behrends. Und dazu gehöre die
Legende von der Kontinuität der Kiewer Rus bis zum heutigen Russland. Für
Wladimir Putin ist die Geschichte des mittelalterlichen Großreichs ein
Beweis dafür, dass Russen und Ukrainer immer schon zusammengehörten – heute
unter russischer Führung, versteht sich.
In einer Rede vor der russischen Föderationsversammlung im Jahr der
Annexion begründete Putin den russischen Anspruch auf die Krim mit der
Taufe Wladimirs I. in der Kathedrale von Chersones. Der einstige Großfürst
von Kyjiw hatte die Christianisierung der Rus initiiert und somit
maßgeblich zur Entstehung der russisch-orthodoxen Kirche beigetragen. Für
eine Statue in Moskau wurde der Grundstein der Kathedrale aus Chersones
entfernt.
[3][Kulturgüter werden allerdings nicht erst zerstört, wenn sie Russland in
die Hände gefallen sind.] Nach Angaben des Kulturministeriums der Ukraine
sind seit dem 24. Februar 2022 bisher 902 Kulturstätten durch
Kriegshandlungen beschädigt oder zerstört worden. Die Unesco hat bis zum
11. Juli Schäden an 431 Stätten verifiziert – 138 religiöse Stätten, 214
Gebäude von historischem und/oder künstlerischem Interesse, 31 Museen, 32
Denkmäler, 15 Bibliotheken und ein Archiv.
Erstaunlich still in der Sache sind bisher die offiziellen Hüter des
Unesco-Welterbes. Über die geschützten Stätten soll eigentlich der
Internationale Rat für Denkmalpflege (Icomos) mit Sitz in Paris wachen. In
anderen Ländern wird schon mal eine harsche Stellungnahme veröffentlicht
oder mit der Streichung von der prestigeträchtigen Liste gedroht, wenn es
jemand wagt, auch nur in der Umgebung zu bauen. Doch in Sachen Krim
herrscht Stille. Mehrfach gestellte Anfragen der taz beantwortete Icomos
nicht.
1 Aug 2024
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## AUTOREN
Marco Zschieck
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