# taz.de -- Historiker Timothy Snyder in Berlin: Der Weltgeist in Kyjiw | |
> Für Timothy Snyder verdient die Ukraine einen Platz in der | |
> Weltgeschichte. In Berlin zeichnete er ihren Beitrag zur | |
> Zivilisationsgeschichte nach. | |
Bild: Kyjiw im Januar 2024. Timothy Snyder zeigt, dass auf dem Gebiet der Ukrai… | |
Manchmal ist am schwersten zu sehen, was man direkt vor der Nase hat, | |
bemerkte der Schriftsteller George Orwell einmal. Auf diesen Satz bezog | |
sich auch [1][der Osteuropahistoriker Timothy Snyder], als er 2022 an der | |
Yale University über die Geschichte der Ukraine sprach. Die Ukraine, sagte | |
Snyder damals, liege im Herzen vieler moderner Ereignisse und | |
Entwicklungen. | |
Am Donnerstag war Snyder in Berlin, um dieses Argument zu ergänzen. An der | |
American Academy hielt der Professor einen Vortrag zur ukrainischen | |
Geschichte als „Weltgeschichte“. Darin entwarf er die Idee einer spezifisch | |
ukrainischen line of civilization – eines „Zivilisationsstrangs“, dessen | |
Existenz die westliche Wahrnehmung bislang missachte, im Gegensatz zu den | |
historisch anerkannten Vorbildern des alten Mesopotamiens oder des antiken | |
Griechenlands. | |
Snyder konzentrierte sich auf vier zivilisatorische Leistungen, beginnend | |
im prähistorischen Europa. Nach heutigem Kenntnisstand seien die ältesten | |
Städte vor 6.100 bis 5.600 Jahren in der heutigen südlichen Zentralukraine | |
entstanden. Sie seien anders aufgebaut gewesen als etwa Babylon. Im alten | |
Nebelivka etwa habe es keine Stadtmauern gegeben und auch keinen großen | |
Tempel für rituelle Menschenopfer. | |
Stattdessen war die Stadt laut Snyder kreisförmig angeordnet mit einer | |
großen Freifläche in der Mitte, deren genauer Nutzen (Theater? Weideland?) | |
noch unbekannt ist. Es könne sein, dass es viele andere Arten gab, eine | |
große Zahl Menschen zu organisieren, als in hierarchisch aufgebauten | |
Städten wie Babylon, sagt er. Das Wissen darüber sei wohl nur verloren, | |
weil die prähistorischen Menschen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine keine | |
Schrift hatten. | |
## Frühe Variante des Indoeuropäischen | |
Kurze Zeit später sei in der Region eine frühe Variante des | |
Indoeuropäischen entstanden, das heute als germanische, romanische oder | |
slawische Sprachen von der Hälfte der Weltbevölkerung gesprochen wird. | |
Dieselben Menschen, die dieses Protoindoeuropäisch sprachen, hätten das | |
Pferd domestiziert und das Rad erfunden. Das erlaubte es ihnen, eine | |
Weidewirtschaft zu entwickeln, Reichtum anzusammeln und ihr Militär | |
auszubauen. Auf dem Pferderücken hätten sie das Indoeuropäische nach | |
Europa, in den Nahen Osten und bis nach Südasien gebracht. | |
Für seinen dritten Punkt springt Snyder ins antike Griechenland, nach | |
Athen. Die Stadt habe im regen Austausch mit der ukrainischen Steppe | |
gestanden und habe ohne sie nicht existieren können: Aus der heutigen | |
Südukraine sei der Weizen für das Brot gekommen, das die Athener aßen, | |
während sie unter ihren Olivenbäumen die Philosophie und Mathematik | |
entwickelten. In den mythischen Geschichten der Griechen treffen ihre | |
Helden oft auf kampferprobte Kriegerinnen, die Amazonen. | |
Diese Begegnungen hätten wirklich stattgefunden, sagt Snyder. Dabei | |
handelte es sich um die kämpfenden Frauen der Skythen, eines Volks, das am | |
Schwarzen Meer in der heutigen Südukraine lebte. | |
Schließlich weist Snyder darauf hin, dass die Ukraine sprachlich und | |
kulturell eine Mischung ist: Da waren einmal die Wikinger aus Skandinavien, | |
die den Dnipro entlangfuhren und im späten 9. Jahrhundert n. Chr. die | |
Kiewer Rus gründeten, das erste Staatsgebilde auf ukrainischem Boden. Die | |
Skandinavier versklavten die ansässigen slawischen Völker zunächst, | |
vermischten sich später aber auch mit ihnen. Dass Skandinavier im Jahr 988 | |
zum Christentum konvertierten, habe wiederum am anhaltenden Einfluss der | |
griechischen Welt um Byzanz gelegen. | |
Snyder spricht von einer „Hybridität und Vermischung, die | |
charakteristisch ist für den gesamten ukrainischen Zivilisationsstrang“. | |
## Zum Opfer degradiert | |
All diese Leistungen – die ältesten Städte, der Ursprung der | |
indoeuropäischen Sprachen, die Rolle für die griechische Zivilisation sowie | |
die Staatsbildung in Kyjiw – sichern der Ukraine in Snyders Augen einen | |
Platz in der Weltgeschichte. Erst in der Neuzeit sei die Ukraine vom | |
Treiber der globalen Geschichte [2][zum Opfer und Objekt imperialer | |
Aggression geworden] – und habe damit auch die Kontrolle über ihre | |
Geschichtsschreibung verloren. | |
Snyders Vortrag ist der Versuch, diese verdrängten Linien offenzulegen; | |
auch weil sie ein Gegenmodell sein können etwa zum hierarchischen | |
babylonischen Modell. „Diese Art der Geschichtsbetrachtung kann unser | |
Denken über die Zivilgesellschaft und die Freiheit verändern. Denn viele | |
dieser prähistorischen und frühgeschichtlichen Gesellschaften beruhten in | |
großem Maße auf Kooperation.“ | |
Das sehe man auch [3][am heutigen Krieg gegen Russland]: „Die Ukrainer | |
haben Erfolg, weil sie sich selbst organisieren.“ | |
16 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Leon Holly | |
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