| # taz.de -- Timothy Snyder über den Holocaust: „Ich schildere Mikropolitik“ | |
| > Nicht singulär? „Black Earth“-Autor Snyder über den Holocaust, | |
| > Staatszerstörung und die „ökologische Panik“ Hitlers. | |
| Bild: Über sein Buch wird viel diskutiert: Schriftsteller Timothy Snyder. | |
| taz.am wochenende: Herr Snyder, Ihr Buch stellt die Singularität des | |
| Holocaust infrage. Warum? | |
| Timothy Snyder: In Deutschland gibt es die starke Tendenz, über | |
| Singularität statt über den Holocaust zu sprechen. Das ist der Sieg der | |
| nationalen Erinnerungskultur über wissenschaftliche Geschichte. Bevor man | |
| von Singularität sprechen oder Lehren aus dem Holocaust ziehen kann, muss | |
| man ein genaues Bild von ihm haben. Man muss auch über Lebensraum sprechen, | |
| das, was ich die ökologische Panik nenne – über unsere Tendenz, immer mehr | |
| zu wollen, als wir haben. | |
| Und man muss über Staatenlosigkeit und Staatszerstörung sprechen. Man | |
| konnte die Juden nur dort töten, wo es keine Staaten mehr gab. Der | |
| Holocaust ist in dem Sinne singulär, als dass es vorher nie den Versuch | |
| gab, ein ganzes Volk zu vernichten. Aber das ist nur ein Aspekt des | |
| Holocaust. | |
| Die Zerstörung von Staaten ist eine entscheidende Bedingung für den | |
| Holocaust? | |
| Gemessen in Ziffern gab es in Deutschland zwischen 1933 und 1939 keinen | |
| Holocaust. Bis 1939 konnten die Nazis nur ein paar Hundert Juden umbringen. | |
| Das ist natürlich schrecklich, aber kein Holocaust. Wenn man dagegen die | |
| Gebiete außerhalb Deutschlands betrachtet, sieht man, dass über 97 Prozent | |
| der Opfer Menschen waren, die vorher nichts mit Deutschland zu tun hatten. | |
| Und sie alle wurden in einem Gebiet getötet, in dem es keine Staaten im | |
| normalen Sinn des Wortes gab. | |
| Was heißt das? | |
| Die Deutschen mussten erst Nachbarstaaten zerstören. Zuerst machten sie in | |
| Österreich die Erfahrung, welche Demütigungen möglich waren, wenn ein Staat | |
| von einem Tag auf den anderen nicht mehr existiert. Dann in der | |
| Tschechoslowakei. Als aus den tschechoslowakischen Juden slowakische Juden | |
| wurden, verloren sie ihre Staatsbürgerschaft. So konnte man später die | |
| dortigen Juden nach Auschwitz schicken. | |
| Ungarn, das einen Teil von der Tschechoslowakei bekam, betrachtete die | |
| Juden auf diesem Gebiet nicht als seine Bürger. Und dann hat Ungarn diese | |
| Juden genau in dem Moment in die Ukraine geschickt, als die Wehrmacht dort | |
| eintraf. Da haben sich dann die ersten Massenerschießungen ereignet. | |
| Es geht also um den Entzug der Staatsbürgerschaft? | |
| Ja, wenn man Jude war und den Pass eines Staates hatte, den die Nazis | |
| anerkannten, überlebte man. Ein US-amerikanischer Jude in Warschau war | |
| nicht in Gefahr. Die Nazis töteten keinen rumänischen oder ungarischen | |
| Juden ohne Zutun des rumänischen oder ungarischen Staats. In Deutschland | |
| hat man versucht, den Juden die Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Bis zum | |
| Ende des Kriegs überlebten Juden, die mit Nichtjuden verheiratet waren. | |
| Wir denken immer vor allem an die lange Prozedur der Ausbürgerung deutscher | |
| Juden nach. Aber der schnellste Weg zur Ausbürgerung war die Vernichtung | |
| anderer Staaten. Man kann das gut am Beispiel der polnischen Polizei sehen. | |
| In den 30ern war sie gegen die antisemitischen Pogrome und schützte die | |
| bürgerliche Ordnung. | |
| Zwischen 1942 und 1944 dann hat sie Juden gejagt und getötet. Das waren | |
| dieselben Leute, nur haben sie diesmal in einer anderen, zerstörten, | |
| fragmentierten politischen Situation gearbeitet. | |
| Sie sagen selbst, dass es vor dem Überfall der Deutschen Pogrome gegen | |
| Juden in Polen gegeben hat. Vernachlässigen Sie nicht den Antisemitismus? | |
| Das muss man vergleichend betrachten. Es gab zwei Länder, die in der | |
| Vorkriegszeit keine Tradition des politischen Antisemitismus hatten, die | |
| Niederlande und Griechenland. Dort sind aber proportional viel mehr Juden | |
| getötet worden als in Rumänien, wo es sehr viel Antisemitismus und sogar | |
| eine mörderische antisemitische Politik gab. | |
| Es ist wichtig, wahrzunehmen, dass viele Menschen, die keine Antisemiten | |
| waren, Juden getötet haben. Die Deutschen, die am Ende Antisemiten wurden, | |
| waren nicht notwendig vorher welche. Wenn man einen Juden tötet, wird man | |
| in der Regel zum Antisemiten, weil man eine Erklärung braucht. Und genau | |
| deshalb ist der Staat so wichtig. | |
| Solange ein Staat existiert, der die Juden als seine Bürger betrachtet, ist | |
| kein Holocaust möglich. In der Tat war Antisemitismus ein riesiges Problem | |
| in Osteuropa. Aber es waren die Deutschen, die die Strukturen, die das | |
| Zusammenleben erlaubten, vernichtet haben. | |
| Ein Staat besteht doch aus mehr als nur seiner Regierung. Die Nazis haben | |
| viele Institutionen, etwa Schulen oder Krankenhäuser, direkt vereinnahmt. | |
| Ist es nicht zu radikal, von Staatszerstörung zu sprechen, wenn es nur um | |
| die Absetzung einer Regierung und den Entzug der Staatsbürgerschaft geht? | |
| Wenn man ein Konzept zur Staatszerstörung vorstellt, ist das natürlich ein | |
| Idealtypus. Aber ich glaube, diese Abstraktion entspricht zu einem großen | |
| Teil der Wirklichkeit. Wenn Sie nach Osten schauen, sehen Sie, dass die | |
| Voraussetzung für den Entzug der Staatsbürgerschaft die Zerstörung des | |
| Staates ist. Sie haben recht, wenn Sie von den anderen staatlichen | |
| Institutionen sprechen, aber dafür braucht man, und ich versuche das am | |
| Beispiel Polens, ein differenziertes Bild jeder einzelnen Gesellschaft. | |
| In der deutschsprachigen Literatur zum Holocaust hat man überhaupt kein | |
| Bild von der polnischen Gesellschaft oder der litauischen oder | |
| sowjetischen. Ich mache einen Anfang, indem ich versuche, die Mikropolitik | |
| zu schildern. Wenn man sich das am Beispiel der Schulen oder der Polizei | |
| ansieht, kann man gut erkennen, wie das funktioniert. Wenn ein Jude keine | |
| Staatsbürgerschaft mehr hat, hat er keinen Zugang zu den Schulen. In der | |
| polnischen Polizei gab es in der Zwischenkriegszeit auch Juden. Als die | |
| polnische Ordnungspolizei den Deutschen untergeordnet wurde, durften Juden | |
| dort nicht mehr arbeiten. Die Institution wurde nazifiziert. | |
| Und das verlief von Land zu Land unterschiedlich? | |
| Ja. Es gibt die Variante Polen, wo bis zum Ende des Krieges keine | |
| Staatsbürgerschaft mehr existierte. Dann gibt es die erwähnte Variante der | |
| Slowakei, wo für kurze Zeit niemand eine Staatsbürgerschaft hatte, und ein | |
| neues Regime unter deutschem Einfluss kategorisierte anschließend die | |
| Bürger neu, und auf einmal sind die Juden Bürger zweiter Klasse. Dann gibt | |
| es eine dritte Variante, wie in Frankreich, wo ein Staat entscheidet, einen | |
| Teil der Bürger nach Deutschland zu schicken. | |
| Aber ein intakter Staat kann jederzeit seine Politik ändern. Rumänien, ein | |
| sehr antisemitischer Staat, hat das gemacht, nachdem dort zuerst 250.000 | |
| Juden getötet wurden. Neben der Frage der Staatsbürgerschaft ist also auch | |
| sehr wichtig, ob ein Staat noch die Hoheit über seine Bürokratie oder über | |
| seine Außenpolitik hat. | |
| Ist die nicht einfach Folge des Eroberungskriegs? | |
| Hier ist die Hitler’sche Ideologie sehr wichtig. Hitler war kein Staatsmann | |
| oder Nationalist, sondern ein in rassistischen Kategorien denkender | |
| Anarchist. Im Osten waren die Kriege 1939 gegen Polen und 1941 gegen die | |
| Sowjetunion keine Eroberungs-, sondern Vernichtungskriege. Nur auf den | |
| Territorien dieser Länder war ein Holocaust möglich und auf dem Gebiet der | |
| besetzten Sowjetunion konnte der Massenmord an den Juden beginnen. Es gab | |
| vorher keinen Plan dieser Art. | |
| Erst anschließend ermordeten sie die Juden in Polen 1942, obwohl sie dort | |
| schon seit zweieinhalb Jahren waren. Aber da es keinen polnischen Staat | |
| mehr gab und die Juden schon in Ghettos lebten, konnten sie leicht getötet | |
| werden. Die Deutschen haben zwar ab 1942 versucht, das in ganz Europa zu | |
| machen. Aber da kann man sehen, wie wichtig sogar in mit Deutschland | |
| alliierten Staaten die staatliche Souveränität war. | |
| In Frankreich hat man mehr oder weniger eine klassische militärische | |
| Besatzung, deshalb haben so viele französische Juden überlebt. In den | |
| Niederlanden sind mehr Juden ermordet worden, da die Besatzung von der SS | |
| geführt wurde. | |
| Die Ideologie Hitlers nennen sie einen ökologischen Anarchismus. Was muss | |
| man sich darunter vorstellen? | |
| Hitler dachte, er hat die Natur verstanden. Natur bedeutet bei Hitler, dass | |
| es auf der Erde Arten gibt und die Einzelnen bloß Glieder einer Rasse sind. | |
| Dementsprechend sollten sich die Rassen wie Arten benehmen und versuchen, | |
| immer mehr Territorien zu erobern. Alle Ideen, die dem widersprechen, seien | |
| jüdischer Herkunft, so Hitler. Deshalb müsse man die Juden vernichten. | |
| Territorien wofür erobern? | |
| Er ging davon aus, dass wir immer mehr Nahrungsmittel brauchen. Das war für | |
| ihn ein Naturgesetz. Das Konzept vom Lebensraum impliziert, dass eine | |
| höhere Rasse immer mehr davon braucht und dafür andere Rassen vernichtet. | |
| Warum nennen Sie das ökologische Panik und nicht Sozialdarwinismus? | |
| Weil es nicht nur um Darwinismus und das Denken der entsprechenden Epoche | |
| geht. Das ökologische Panik zu nennen ist meine neutrale Konzeption. Hitler | |
| dachte, es sei natürlich, dass wir immer mehr brauchen und immer mehr | |
| wollen. Aber er dachte auch politisch. Er sagte, die deutschen Familien | |
| bräuchten mehr, damit sie so viel haben wie die US-amerikanischen Familien. | |
| Lebensstandard ist immer relativ, er sah das in direktem Zusammenhang mit | |
| dem Konzept vom Lebensraum. Damit konnte er Emotionen mobilisieren. Das | |
| meine ich mit ökologischer Panik. | |
| Es muss nicht der Fall sein, dass man am nächsten Tag vor Hunger stirbt. | |
| Aber man muss diese Panik haben. Hitlers Ideologie zufolge sollten Menschen | |
| immer Angst haben und von Habgier getrieben sein. Wenn es nicht so sei, | |
| läge das an den Juden, die sich das Christentum oder den Sozialismus | |
| ausgedacht hätten, damit der Rest der Leute nicht verstehe, wie es | |
| eigentlich auf der Erde zugehe. Um zur Natur zurückzugehen, müsse man also | |
| die Juden vernichten. | |
| Ist diese Ideologie überhaupt von den Deutschen geteilt worden? Die | |
| gebildeten Eliten etwa hielten doch „Mein Kampf“ für ein lächerliches Buc… | |
| Fehlt da nicht die Verbindung zu denen, die die Pläne zur Ausführung | |
| gebracht haben? | |
| Ich gehe gar nicht davon aus, dass die Deutschen in ihrer Mehrheit daran | |
| glaubten. Es ging darum, rassistische Institutionen in Deutschland zu | |
| schaffen, wie die Lager und die SS. Ein Lager ist ein Gebiet ohne Gesetz, | |
| abseits des Staates. Dort konnten die Nazis machen, was sie wollten. Die SS | |
| muss man als antipolitische Macht sehen, zusammengesetzt aus Leuten, die an | |
| einen rassischen Kampf glaubten und daran, dass man die herkömmlichen | |
| Institutionen vernichten muss. Und genau das hat die SS im Osten gemacht, | |
| sie hat andere Staaten vernichtet. | |
| Wenn man immer nur auf Deutschland starrt, denkt man, für einen Holocaust | |
| würde es genügen, eine Gesellschaft zu nazifizieren. Aber das ist nicht der | |
| Fall. | |
| Sie schreiben, „Ziel der Propaganda war es, die Deutschen unwissentlich in | |
| einen weit größeren Konflikt im Osten zu treiben“. Hatte Hitler einen | |
| geheimen Masterplan? | |
| Wenn es in „Mein Kampf“ um Lebensraum geht, ist sehr klar, dass es um einen | |
| Krieg um die Ukraine geht. In dem „zweiten Buch“ steht ganz klar, dass er | |
| den deutschen Nationalismus benutzen will. Es ist ganz entscheidend, dass | |
| Hitler die Deutschen in einen Krieg schicken musste, der nicht wie andere | |
| Kriege war. | |
| Sie sagen, man könne aus dem Holocaust lernen, etwa wenn man auf die Kriege | |
| in Syrien oder der Ukraine blickt. | |
| In Deutschland verstellt die These von der Singularität des Holocaust die | |
| Sicht. Man blickt zwar schon durch den Holocaust auf die Gegenwart. Der | |
| Unterschied besteht aber darin, dass ich den Holocaust anders sehe. Wenn | |
| man nämlich nur in den Kategorien Ideologie oder Moral denkt, dann sieht | |
| man vielleicht die entscheidenden Lehren, die man aus dem Holocaust ziehen | |
| kann, gar nicht. | |
| Die Ironie ist ja, wenn man staatliche Strukturen zerstört oder die | |
| ökologische Panik antreibt, können sich Ideologie und Moral schnell ändern. | |
| Deshalb müssen wir aus dem Holocaust Lehren ziehen, die in der deutschen | |
| Erinnerungskultur eher nicht gezogen werden. Und wenn man annimmt, dass | |
| Staatenlosigkeit und ökologische Panik Bestandteile des Holocaust sind, | |
| dann sucht man sie auch hier in unserer Welt. Ich denke, das könnte | |
| hilfreich sein. | |
| Je besser wir den Holocaust verstehen, desto leichter ist es, die Risiken | |
| unserer Zeit zu verstehen. | |
| 10 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Tania Martini | |
| Christiane Müller-Lobeck | |
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