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# taz.de -- Berlinale-Filme über den Ukrainekrieg: Roaming im Kriegsgebiet
> Wie spricht man im zweiten Jahr über den Krieg in der Ukraine? Der Film
> „Redaktsiya“ und die Doku „Intercepted“ wählen verschiedene Wege.
Bild: „Intercepted“ von Oksana Karpovych unterlegt Bilder der Zerstörung m…
Die Steppe brennt. Dicke Rauchwolken steigen über einer Stadt im Süden der
Ukraine auf. Es sind jedoch keine Kriegsgeschosse, die für Feuer sorgen,
sondern Brandstifter. „Redaktsiya“ spielt vor der russischen Invasion und
zugleich in einer postfaktischen Welt. Abgedreht kurz vor Kriegsbeginn
stellt er überspitzt die Verknüpfungen zwischen Kleinstadtpolitik und
Provinzpresse dar und zeigt: Über die Korruption in der Ukraine zu höhnen
war keineswegs verboten. Der Spielfilm wurde unter anderem vom ukrainischen
Kulturministerium gefördert.
Yura (Dmytro Bahnenko), der als Biologe eigentlich bloß nach Murmeltieren
sucht, wird über Umwege Journalist. Seine Kolleg:innen glauben keiner
Nachricht, die sie nicht selbst gefälscht haben. Promo-Berichte erhält, wer
am meisten zahlt. Das ist in „Redaktsiya“ die Partei des amtierenden
Bürgermeisters, der zur Wiederwahl antritt. Zumindest soll dieser Eindruck
entstehen, denn der Ortsvorsteher liegt schon eine Weile im Koma. Indes
versuchen die restlichen Politiker mit Tiktok-Tänzen viral zu gehen. Der
Plot schraubt sich dann immer wilder (und alberner) weiter, über
Schießereien und Kultmessen, bis am Ende der Krieg ausbricht – oder
zumindest endet.
Dass es in Yuras Welt überhaupt zu einem Krieg kommen würde, hat sich
womöglich erst im Nachhinein entschieden. Etwas improvisiert wirkt die
Schlussszene, bei der ein von Weitem als scholzähnlich durchgehender
deutscher Kanzler neben einem Selenski-Mimen steht und den Sieg „über das
russische Imperium“ feiert. Geschnitten wurde der Film erst während des
Ukrainekriegs.
An Filmen zu arbeiten war dabei eigentlich das Letzte, was Roman Bondarchuk
und seinem Team 2022 in den Sinn kam, erzählt der Regisseur bei einer
Podiumsdiskussion (Berlinale Talents) am Montagabend in Berlin. Von einer
großen Wut, die bei Kriegsbeginn in den Ukrainer:innen gebrodelt habe,
berichtet die Filmkritikerin Daria Bador. 2023 sei dann für viele ein
deprimierendes Jahr gewesen.
Ebenfalls auf dem Podium sitzt [1][Oksana Karpovych], die mit „Intercepted“
einen Dokumentarfilm über den Krieg gedreht hat. Karpovych hat sich gegen
Zwischentöne entschieden, die in Bondarchuks Film noch so laut dröhnen.
Bilder von Ruinen unterlegt „Intercepted“ mit den Aufnahmen abgefangener
Telefonanrufe, die russische Soldaten vorschriftswidrig in Richtung Heimat
getätigt haben. Zumeist staunen sie in diesen Anrufen über die
Warenvielfalt in der Ukraine und nehmen Beutebestellungen auf.
## Gespräche zwischen Mütter und Söhne
Es ist eindrucksvoll, wie die Daheimgebliebenen mitunter den Soldaten
auszureden versuchen, was diese mit eigenen Augen sehen. „Ich glaube, du
weißt gar nicht, was du da sollst“, schimpft eine Mutter mit ihrem Sohn,
der die Sinnhaftigkeit der „Spezialoperation“ in Frage stellt. Die Ukrainer
seien Schuld daran, dass in Russland das Vieh sterbe, ist sie überzeugt,
auch das Coronavirus sei in ukrainischen Laboren entstanden.
Auch anders geartete Fälle gibt es; Söhne, die ihren immer stiller
werdenden Müttern von der Veränderung erzählen, die mit ihnen durchgeht,
wie sie Gefallen daran finden, Menschen zu foltern. Eine Frau schimpft
lautstark über den russischen Staat. Wenn jemand sie abhört – „gut so“.…
Risikos, dass die Telefongespräche abgefangen würden, werden sich zumindest
einige bewusst gewesen sein. Man beginnt sich unwillkürlich zu fragen,
innerhalb welcher Kontrakte die Telefonanrufe operieren: Wie funktioniert
Roaming in Kriegsgebieten? Und überhaupt: Woher stammen die Audioaufnahmen?
Zumindest Letzteres beantwortet Karpovych bei der Podiumsdiskussion: Die
Gespräche seien vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst (SBU) ins Internet
gestellt worden.
Der Ukrainekrieg ist der am besten dokumentierte Krieg der Welt. Bilder der
Zerstörung aus allen Landesteilen sind über unsere Bildschirme geflimmert.
Das Problem des Ideogrammatischen – Personen und Landschaften in immer
gleichen symbolhaften Bildern darzustellen –, das [2][der französische
Soziologe Pierre Bourdieu] auch in Bezug auf Kriegsfotografie aufbrachte,
gilt so auch für filmische Zeugnisse. Dem weicht Karpovych aus, indem sie
den ungewöhnlichen Weg wählt, ausschließlich Telefongespräche den Bildern
gegenüberzustellen.
Doch ihr Film hätte einiges an Tiefe dazugewinnen können, wären auch die
Stimmen ukrainischer Soldaten zu hören gewesen. Ihre Botschaft, dass Russen
keine Monster qua Geburt, sondern die Summe ihrer Erfahrungen und auf sie
einwirkenden Propagandaerzählungen sind, hätte das nicht geschwächt. Wie
spricht man auf verschiedenen Seiten über den Feind, wenn der zumeist ja
dieselbe Sprache spricht? Das wurde im vergangenen Berlinale-Jahr etwa mit
[3][„In Ukraine“ von Piotr Pawlus und Tomasz Wolski] feinsinnig verhandelt.
Die Depression, von der Daria Badior im zweiten Kriegsjahr berichtete, sie
ist auch den ukrainischen Filmen anzumerken.
21 Feb 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Julia Hubernagel
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Schwerpunkt Berlinale
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