# taz.de -- Pierre Bourdieus 90. Geburtstag: Kultur, um zu herrschen | |
> Am ersten August wäre der französische Soziologe Pierre Bourdieu 90 Jahre | |
> alt geworden. Seine herrschaftskritische Soziologie ist aktueller denn | |
> je. | |
Bild: Pierre Bourdieu: Ob Musikgeschmack oder Mittagessen, alles weist auf unse… | |
Sie existiert „nur vermittels aller“, und doch haben die Einzelnen wenig | |
Zugriff darauf. Sie wird mehr praktiziert als gedacht, ist eher unbewusst | |
als explizit: Was Pierre Bourdieu als junger Ethnologe hier 1959 über | |
Kultur notiert, bleibt zentral für sein gesamtes Werk. Auch für den später | |
berühmten Sozialforscher und Theoretiker Bourdieu stehen kulturelle Muster | |
im Zentrum seines Werks. Erstmals nachgegangen war er ihnen im noch | |
kolonialen Algerien. | |
Aber selbst noch in den 1990er Jahren in seiner Kritik am Neoliberalismus | |
spielt die Frage nach den Effekten von verkörperten Einstellungen eine | |
zentrale Rolle. Als er sich mit den Auswirkungen der zunehmenden | |
Prekarisierung beschäftigte – „Prekarität ist überall“ schrieb er schon | |
1997 –, plagte ihn die gleiche Frage, die ihn schon angesichts des | |
Kolonialismus umgetrieben hatte. Warum begehren die Menschen nicht oder nur | |
so wenig auf gegen die Entrechtungen, Entwurzelungen und Entmächtigungen, | |
die ihnen zugemutet werden? | |
Herrschaft manifestiert sich nicht nur in ökonomischer Ungleichheit. Nicht | |
nur reich und arm, oben und unten sind die Koordinaten, innerhalb derer | |
sich Machtprozesse abspielen. [1][In seinem Hauptwerk „Die feinen | |
Unterschiede“] (1979, Dt. 1982) war Bourdieu den alltäglichen und subtilen | |
Formen nachgegangen, mit denen Über- und Unterordnung reproduziert wird. Ob | |
der Musikgeschmack oder [2][das Kunsturteil], die Freizeitsportart oder das | |
Mittagessen: Es gibt nichts, was nicht auf unsere soziale Herkunft | |
verweist. | |
Auch wenn die konkreten Ergebnisse dieser Studie vielleicht etwas an | |
Aktualität eingebüßt haben, die prinzipielle Aussage bleibt evident. | |
Kulturelles Kapital, die im Laufe des Lebens angeeignete Bildung und der | |
Umgang mit ihr, entscheidet über Zugang zu öffentlichen Institutionen | |
ebenso wie zu informellen Zirkeln. | |
Abgrenzungen über Kleidung und anderen Konsum zeigen nicht nur Hierarchien | |
an, sondern sie sorgen auch dafür, dass sie bestehen bleiben. Und sie | |
funktionieren immer kollektivierend: Die einen schweißen sie zusammen, die | |
anderen halten sie draußen. Ähnliche Haltungen regeln nicht nur | |
individuelle Sympathien und Abneigungen. Sie regulieren auch die | |
kollektiven Chancen zu sozialem Aufstieg. Immer wieder haben an Bourdieu | |
angelehnte Studien gezeigt: Wenn im Habitus, den verkörperten Haltungen, | |
keine Gemeinsamkeiten zu den Etablierten und Arrivierten bestehen, an deren | |
Seite man es schaffen will, hilft die erbrachte Leistung auch kaum weiter. | |
Analyse des Bildungssystems | |
Bourdieu hat Ausschlüsse immer anhand konkreter Beispiele untersucht: Im | |
Bildungssystem anhand der Elitenreproduktion, im Feld der Kunst im Hinblick | |
auf den Museumsbesuch, in der Philosophie am Beispiel des [3][Aufstiegs | |
Martin Heideggers]. Und nicht zuletzt in Bezug auf jene Formen von | |
Aktivismus, die sich gerade gegen Exklusionen gerichtet haben. Der „Akt des | |
Wortergreifens“, der im Pariser Mai 1968 zum zentralen revolutionären Motiv | |
geworden war, sei immer auch „ein Ergreifen der Worte der anderen“ gewesen, | |
kritisierte Bourdieu. | |
Diese Kritik mündete aber nie in einer Ablehnung von Parteilichkeit. Schon | |
in Algerien ging es ihm darum, die Misere der Menschen nicht nur empirisch | |
zu erheben, sondern auch zu vermitteln. Spätestens mit seiner Studie „Das | |
Elend der Welt“ (1993, Dt. 1997) brach Bourdieu mit akademischen | |
Gepflogenheiten. | |
Es ging darum, das Leiden an der Welt nicht nur darzustellen. Auch den | |
Dargestellten sollten Stimmen und Sichtbarkeiten verliehen werden. Durch | |
permanente Reflexion der eigenen Position als Forscher sollten | |
Paternalismus und bloß karitative Fürsprache vermieden werden. | |
Zwar ging Bourdieu mit seinen jeweiligen Teams stets auch den gewaltsamen | |
Ausschlüssen nach. Aber als System von Repressionen verstand er Herrschaft | |
gerade nicht. Der Beherrschte, schrieb Bourdieu in seinen Vorlesungen zum | |
Staat, „ist auch jemand, der erkennt und anerkennt“. Bestehende | |
Institutionen und Routinen, vom Verwaltungsapparat bis zur | |
Geschlechterordnung, müssen nicht bloß mit dem Schlagstock durchgesetzt | |
werden. | |
Sie bieten für viele immer auch Chancen und Möglichkeiten, die zu ihrer | |
Anerkennung führen. Und dies auf allen Ebenen des Sozialen. Das wichtigste | |
Mittel, um solche Anerkennung und um Konsens zu erzeugen, ist Integration. | |
Bourdieu beschreibt sie an verschiedenen Beispielen in all ihren Facetten: | |
als Einbeziehen, Eingliedern, Vereinnahmen. | |
## Sein Begriff der symbolischen Gewalt | |
All das geschieht in der Regel weniger über finanzielle Mittel als über | |
Prozesse der Sinn- und Bedeutungsgebung. Also über Kultur. Gemeint sind | |
nicht Balzac, Rosa Bonheur und Georges Brassens, also Kultur im engeren | |
Sinne von Kunstproduktion, sondern Kultur in einem weiten Verständnis von | |
allgemeinen Denkweisen. | |
Auf ihrem Terrain wirkt, was Bourdieu die symbolische Gewalt genannt hat. | |
Symbolisch ist diese Gewalt nicht, weil sie nur scheinbar existiert oder | |
irreal wäre, sondern weil sie in den Denkmustern verankert ist. Sie schafft | |
Einverständnis ohne explizite Zustimmung, Konsens ohne ausgesprochene | |
Verhandlungen. Nicht physische Gewalt ist also das wichtigste Mittel zur | |
Sicherung von Herrschaft, sondern symbolische Gewalt. | |
Bourdieus Verständnis der Sozialwissenschaften war eine direkte Reaktion | |
auf diese Analyse. Aufgabe der Soziologie sei es, sagte er einmal in einem | |
Gespräch mit dem damaligen Journalisten und späteren [4][Kollegen und | |
Freund Didier Eribon], „die verborgen Mechanismen der Autorität“ zu | |
enthüllen. Er tat es in unzähligen Büchern, Hunderten von Artikeln, in | |
Forschungsprojekten und bei Podiumsdiskussionen. | |
Er tat es aber auch als öffentlicher Intellektueller, der er im letzten | |
Jahrzehnt seines unerwartet schnellen Tods 2002 immer stärker wurde. Er | |
sprach 1995 vor den streikenden BahnarbeiterInnen und verfasste diverse | |
Artikel gegen das, was er die „neoliberale Offensive“ nannte: | |
Privatisierungen, Deregulierung der Arbeitsmärkte und eine zunehmende | |
Ökonomisierung aller Lebensbereiche. | |
Um schließlich zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Warum begehren so viele | |
Menschen gegen die herrschenden Verhältnisse nicht auf? Weil sie teilhaben | |
und sich mit dem abfinden, was für sie beim Spiel des Lebens herausspringt. | |
Das ist die eine Antwort. | |
Die andere gab Bourdieu schon 1959 und sie passt in gewisser Weise | |
ebenfalls heute noch: Es braucht ein Minimum an Zugriff auf die Welt, um | |
das Leben in die eigene Hand nehmen zu können. Ein Zugriff, der vielen | |
Prekarisierten von heute ebenso fehlt wie schon dem algerischen | |
Subproletariat der 1950er Jahre. Dass ausgerechnet jene die Revolution | |
machen, die kaum wissen, wie sie ihr persönliches Morgen gestalten könnten, | |
hielt Bourdieu für illusorisch. Dagegen gehabt hätte er allerdings nicht | |
das Geringste. | |
1 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jens Kastner | |
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