# taz.de -- Sachbuch über Alltag auf dem Land: Eine wachsende Kluft | |
> Uta Ruge untersucht in ihrem Sachbuch „Bauern, Land“ die Spuren | |
> bäuerlichen Alltagslebens in unserer Kultur. Eine Welt, die verschwindet. | |
Bild: Harte Arbeit: Pflügen eines Feldes in Tarnow/Meck-Pomm | |
Nicht nur Städte, Bauwerke und Menschen haben eine Vergangenheit, „auch ein | |
Acker hat seine Geschichte“. Ein oft unscheinbares Stück Land, dem man | |
seine Geschichte nicht ansieht. | |
Uta Ruge ist in ihr niedersächsisches Heimatdorf zurückgekehrt. Ihr Bruder | |
Waldemar hat den elterlichen Hof übernommen, ein mittelgroßer Betrieb mit | |
Kühen und Ackerbau, konventionell bewirtschaftet; er leidet unter der | |
abgeschafften Milchquote und Preispolitik der Discounter, wirren | |
EU-Regularien und mangelnder Anerkennung des Geleisteten. Fehlende | |
Wertschätzung und mangelndes Wissen über das, [1][was Landwirtschaft heute | |
bedeutet], schmerzt ihm am meisten. | |
Aus dieser Motivation, der eigenen bäuerlichen Herkunft nachzugehen und | |
zugleich mehr über die Veränderungen in der Landwirtschaft zu erfahren, ist | |
ein spannendes Sachbuch mit autobiografischen Einsprengseln und | |
historischen Einschüben entstanden. Kein Roman à la [2][„Altes Land“], | |
welches gar nicht weit weg an der Elbe liegt. Auch Ruges Familie waren | |
Flüchtlinge, allerdings aus der DDR, sie kamen 1957 in das Dorf an der | |
Niederelbe, wo sie die Regeln der engen Gemeinschaft von Moorbauern, die | |
besonderen Witterungsverhältnisse und die spezielle Bodenbeschaffenheit | |
kennenlernen mussten: Ein ständiges „Zuviel an Wasser“, eine | |
Siedlergemeinschaft mit hohem Ethos, in der alle gleich waren – auch gleich | |
arm. | |
Die Autorin hat in Archiven und Kirchenbüchern gegraben, hat Schul- und | |
Dorfchroniken ausgewertet, sich durch landwirtschaftliche Schriften | |
geackert und die Geschichte der Region und ihrer Bewohner:innen | |
recherchiert. Die Gegend gehörte im 18. Jahrhundert zum [3][Kurfürstentum | |
Hannover] und damit zum britischen Königshaus, sie kam erst 1864 zu | |
Preußen. | |
## Neue Eigentumsverhältnisse | |
Politische Reformen, Bauernbefreiung, neue Eigentumsverhältnisse, die neue | |
Ungleichheiten schufen, all das erreichte auch Neubachenbruch im Hadelner | |
Land, wo die Bauern die Moore trockengelegt hatten, um ihnen im staatlichen | |
Auftrag Acker- und Weideland abzutrotzen. Es machte sie zu freien Bauern – | |
wenn auch als Erbpächter zu Abgaben verpflichtet. Eine Art | |
Binnenkolonisation, die sich parallel zur Eroberung und Unterjochung | |
fremder Länder vollzog. Der Rekrutierung für die Napoleonischen Kriege | |
entzogen sich die Hadelner Bauernsöhne erfolgreich. | |
Chroniken und Amtsschreiben lassen den Werdegang der Höfe und Familien | |
nachvollziehen. Dennoch gibt es kaum Zeugnisse der meist schreib- und | |
leseunkundigen Bauern selbst. Klerus, Bürger und Adlige trieben die | |
Bodenreformen voran und philosophierten über Land und Leute. In einem der | |
historischen Exkurse stößt Ruge in Vergils „Lob des Landbaus“ auf eine fr… | |
romantisierende Sicht – die Realität der Sklaverei ignorierte der römische | |
Autor. | |
## Idealisierung auf Lateinisch | |
Seine Idealisierung des einfachen Landlebens wurde jahrhundertelang durch | |
die Lateinschulen weitergereicht. Ruge bezieht Maler wie Brueghel, van Gogh | |
und Malewitsch ein – Letzterer hat mit „Rotes Quadrat. Malerischer | |
Realismus einer Bäuerin in zwei Dimensionen“ eine höchst eigenwillige | |
Interpretation der Landarbeit geleistet, während van Gogh „die Arbeit | |
selbst“ malte, ihre physische Dimension vermitteln wollte. | |
Von den zwanzig Höfen des Dorfes aus Ruges Kindheit sind heute noch vier | |
übrig. Wir wissen nicht, ob Bruder Waldemar vor einem Jahr mit seinem | |
Trecker Richtung Berlin aufgebrochen ist, um sich für „Land schafft | |
Verbindung“ stark zu machen. Die Bauern seien selbst auf dem Land | |
inzwischen eine Minderheit, sagt er. Sie störten mit ihren großen Maschinen | |
Landschaftsbild und Naturerlebnis. Alles geht heutzutage hochtechnisiert | |
vonstatten. Kein Handgriff ist mehr so wie früher, stellt Ruge fest, als | |
sie zu Besuch ist. Der teuer zu mietende Maishäcksler hat 600 PS und | |
schafft zehn Reihen auf einmal. Für einen Urlaub reicht es dennoch nicht. | |
„Bauern, Land“ löst nicht die aktuellen Widersprüche der Agrarpolitik auf. | |
Ob ökologische oder konventionelle Landwirtschaft sei nicht mehr die | |
zentrale Frage, meint Ruge. Sie konstatiert die wachsende Kluft zwischen | |
Produzenten und Konsumenten. Es ist der „ungerechte, unpassende | |
Bauernblick“, den Ruge stellvertretend einnimmt, auf dem sie manches Mal | |
beharrt. Auf den alten Schulfotos, die Ruge betrachtet, gibt es keine | |
Kinder, die lächeln. Ruge selbst ist nach der Schule wie selbstverständlich | |
weggegangen. Sie stellt fest, dass es heute eine jüngere Generation gibt, | |
die bleibt oder zurückkehrt. Die wenigsten leben von der Landwirtschaft. | |
Vielleicht wachsen Stadt und Land dennoch wieder mehr zusammen. | |
9 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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