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# taz.de -- Buch „Die Elenden“ über Armut: Die Wut in Worten
> Im Buch „Die Elenden“ schreibt Anna Mayr über Reichtum und Armut. Dabei
> bleibt sie bei der Kritik von Stigmata, statt Verhältnisse infrage zu
> stellen.
Bild: Anna Mayr ist Journalistin und lebt in Berlin
In der Grundschule hatte ich zwei Freunde, die mich am Wochenende manchmal
zu sich nach Hause einluden. Sie hatten große Häuser, große Zimmer, große
Fernseher. Wenn ich da war, bekam ich Dinge zu essen, die ich noch nicht
kannte. Die Besuche waren aufregend. Manchmal überforderten sie mich aber.
Als mich die Mutter des Freundes einmal bat, Eiswürfel vom Kühlschrank zu
holen, fand ich sie nicht.
Mein Freund kam zur Hilfe, hielt das Glas in eine Wölbung im Kühlschrank
und ich schaute blöd aus der Wäsche. Ich hatte noch nie so einen Eisspender
gesehen. Nach diesen Besuchen mischte sich diese Faszination mit Wut. Wut
darüber, dass meine Freunde Dinge zu Hause hatten, die ich nicht hatte. Ich
richtete die Wut damals gegen meine Eltern. Für mich waren sie für den
Mangel verantwortlich. Später verstand ich, dass nicht sie das Problem
waren.
Wenn man „Die Elenden“ von Anna Mayr liest, dann liest man diese Wut. Über
die materielle Ungleichheit, über Reichtum und Armut, über diese eine
Lebenstatsache, die bestimmt, wie viel ein Mensch vom Leben erwarten kann;
ein Prinzip, an dessen Beginn der Zufall steht, der geografische und
soziale Ort, in den man geboren wird. Man kann das auch ungerecht finden,
wenn man zu den Glücklichen beim Lebensbingo gehört. Wenn man aber zu den
Unteren zählt, dann findet man das nicht irgendwie, dann ist man wütend.
Deshalb ist Anna Mayr wütend, wenn sie von ihrem neuen Leben als
Journalistin schreibt, von Begegnungen mit Kollegen, die aus ökonomisch
gesicherten Verhältnissen stammen, darüber, wie sie wahrgenommen, was von
ihr erwartet wird. [1][Jene, die Ähnliches erlebt haben, erkennen diese
Wut], und andere, die sich vor den Kopf gestoßen fühlen können, wenn sie
auf diese Wut treffen, lernen sie kennen. Es kostet Mühe, diese Wut in
Worte zu übersetzen, sie zu zivilisieren. Was die FAZ Mayr in einer
Rezension vorwirft, ist deshalb ihre Stärke: „Anna Mayr empört sich.“
## Eine Reihe von Fragen
Ihrem Schreiben über Arbeitslosigkeit gehen Fragen voraus, die Menschen mit
ähnlichen Biografien teilen: Wenn ich als Aufsteigerin in meinem neuen
Leben und neuen Milieu auf Ignoranz gegenüber sozialer Ungleichheit treffe,
bringe ich dann meine eigene Erfahrungen ins Spiel, um dem
entgegenzuwirken? Oder belasse ich es als Journalistin aus der unteren
Klasse dabei, dass ich die Frage der sozialen Ungleichheit mittelbar durch
mein Problembewusstsein stelle? Wenn ich mich für Ersteres entscheide, was
hat das dann für Konsequenzen für mich?
Diese Fragen zeigen, welche Kluft sich in deutschen Redaktionen auftut,
wenn jemand wie Mayr plötzlich ein Teil von ihnen ist; eine Kluft, die
nicht nur individuell ist, sondern gesellschaftlich und auch
medienpolitisch, wenn man darüber nachdenkt, wer in Deutschland Journalist
wird und wer nicht, und was das mit der Berichterstattung macht. Spätestens
seit den Veröffentlichungen des [2][französischen Soziologen Didier
Eribon], der französischen Autorin Annie Ernaux und auch dem Buch des
Journalisten Christian Baron interessieren sich auch andere dafür, wenn
soziale Überläufer die soziale Frage stellen.
Mayr schreibt von einem persönlichen Radiobeitrag oder von einem Text vor
einer Landtagswahl, in dem sie erklärte, warum ihre Eltern nicht wählen.
Sie habe positive Zuschriften bekommen, von Menschen aus ihrem
Ursprungsmilieu, aber auch von Menschen aus ihrem neuen Milieu, die sagten,
dass sie durch ihren Text etwas verstanden hätten. Das habe sie froh
gemacht und sie habe gedacht, dass sie Pauschalisierungen entgegenwirken
könne. Heute aber finde sie, dass der Text über das Nichtwählen ein guter
Text, aber einer „mit einer idiotischen Handlung“ gewesen sei.
Ihre Begründung: „In Wirklichkeit habe ich meine Eltern und mich durch
diesen Text kleingemacht. Ich habe mich denen unterworfen, die einen
Augenzeugenbericht benötigen, um wirklich glauben zu können, dass Menschen
ohne Arbeit keine Idioten sind.“ Über ihre Eltern schreibt sie: „Ich möch…
sowieso gar nicht so viel über sie schreiben – weil ihre
gesellschaftlichen Rollen mit ihnen als Individuen sehr wenig zu tun
haben.“
## Die Glaubwürdigkeit
Deshalb erfährt man kaum etwas von ihrer Familie. Diese Entscheidung ist
zunächst nachvollziehbar, die Wut der Schreibenden bleibt dadurch aber
abstrakt. Schließlich ist die nachvollziehbare Entscheidung auch eine
gemütliche, einfache, einseitige. Die Frage nach dem öffentlichen Erzählen
ist keine, die sich pauschal beantworten lässt. Die Glaubwürdigkeit einer
Geschichte ist dort am stärksten, wo sie mit Konkretem gefüllt wird. Das
Füllen macht aber angreifbar, verletzlich. Was bedeutet, dass man sich vor
jeder einzelnen Erzählung von Neuem die Frage stellen muss, was zu erzählen
noch in Ordnung ist.
Dass es gerade beim Thema soziale Ungleichheit eine Ungleichheit im
Kommunikationsverhältnis gibt, ist unvermeidbar: die eine Seite erzählt,
die andere kann anonym konsumieren. Diese Ungleichheit beginnt aber nicht
beim Erzählen. Sie hat ihren strukturellen Ursprung in der sozialen
Ungleichheit selbst. Der Skandal und somit das zu Erzählende ist nicht,
dass es Menschen gibt, die sozial abgesichert sind, sondern dass es solche
gibt, die es nicht sind. Wer zur zweiten Gruppe gehört, der muss diese
Ungleichheit im Erzählen und Lesen aushalten. Mayr entscheidet sich dagegen
und verschiebt die Auseinandersetzung auf eine realpolitische und auch
philosophische Ebene.
Und hier rechnet sie ab: mit einer Industrie der sozialen Arbeit zum
Beispiel, die man vermeintlich gar nicht brauchen würde, wenn man den
Betroffenen einfach das Geld geben würde, das man dafür ausgibt; mit dem
Konzept des sozialen Aufstiegs; vor allem aber mit der zeitgenössischen
Sozialdemokratie: sie zeichnet die Geschichte der Agenda-Politik und von
Gerhard Schröder nach, formuliert dann zwei Forderungen, die linkeren
Sozialdemokrat:innen ganz gut stehen würden: die Anhebung des
Hartz-IV-Satzes auf den Steuerfreibetrag, also auf 764 Euro pro Person im
Monat, und des Mindestlohns auf 12 Euro.
Bemerkenswert ist, dass die Autorin eine harte Trennungslinie zwischen
Arbeitslosen und selbst prekären Lohnabhängigen zieht. Weil auch
diejenigen, die am untersten Rand der Arbeitswelt malochen, sich
Selbstwertgefühl dadurch verschafften, indem sie auf die Arbeitslosen
herabblickten. Das zeige, wie sehr sich Menschen über Lohnarbeit
definierten.
## Strukturell verankert
Deshalb fordert Mayr, die Lohnarbeit in der Identitätsstiftung der Menschen
zu entwerten und dass es in Ordnung sein sollte, wenn jemand nicht
arbeitet. Das passt zu ihrer Rezeption von Karl Marx, die ziemlich auf
dessen Verachtung des „Lumpenproletariats“ beschränkt bleibt und auf ihre
fragliche Behauptung, dass für Marx der „Müßiggänger nie ein Ideal“ gew…
sei und er gewollt habe, dass alle arbeiten.
Hätte Mayr sich aufrichtig mit Marx beschäftigt, dann wüsste sie, dass
dieser eben kein Arbeitsfetischist war. Dann würden ihr die Probleme, über
die sie schreibt, auch nicht als Probleme der Wahrnehmung gelten. In
Wirklichkeit sind sie nämlich strukturell und materiell verankert, somit
nicht alleine auf Vorurteile zurückzuführen. In der marxistischen Analyse
ist da die Rede von Realabstraktion. Gemeint ist damit, dass wir nicht auf
kapitalistische Weise leben und arbeiten, weil uns irgendjemand betrügt,
wir uns täuschen lassen oder etwas nicht richtig verstanden haben.
Wir leben und arbeiten so, weil wir in einer Welt leben, die von den
Kategorien Ware, Lohnarbeit und Wert beherrscht werden; wobei diese
Konzepte nicht nur in unserer Wahrnehmung zu einer Art vermeintlich
unverrückbarem Naturzustand geronnen sind, sondern auch materiell in einer
historischen Herausbildung gesellschaftlicher Arbeitsteilung.
Wenn man diesen Zustand, der soziale Ungleichheit verantwortet, auflösen
möchte, reicht es deshalb nicht, sich um Vorurteilsfreiheit zu bemühen. „Es
wirkt schnell peinlich, links zu sein – manchmal habe ich das Gefühl, es
ist kaum möglich, von einer gerechteren Welt zu sprechen, ohne sich selbst
dafür ein bisschen zu verachten“, schreibt Mayr. Vielleicht ist es auch
dieses Gefühl, das sie daran hindert, die Fragen etwas grundsätzlicher zu
stellen. Aber auch das ist nachvollziehbar. In einer Zeit, in der es als
mutig gilt, sozialdemokratische Forderungen zu stellen, gelten jene als
komplett verrückt, die mehr als das fordern.
22 Sep 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Soziale Gerechtigkeit
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