# taz.de -- Neues Buch von Didier Eribon: „Scared gay kid“ | |
> Didier Eribon ist der am meisten gefeierte Soziologe seit Langem. | |
> „Gesellschaft als Urteil“ knüpft an sein Erfolgsbuch „Rückkehr aus Re… | |
> an. | |
Bild: Kritisiert Bourdieu: Der französische Soziologe Didier Eribon | |
„Man kann ein Buch über die Scham geschrieben haben, ohne sie zu | |
überwinden.“ Didier Eribon weiß, wovon er spricht. Sein Buch „Rückkehr n… | |
Reims“ über seine doppelte Scham, die sexuelle und die soziale, aus der | |
heraus er versuchte sich zu befreien und sich neu zu erfinden, war ein | |
Riesenerfolg. Über 90.000-mal hat es sich im letzten Jahr allein in | |
Deutschland verkauft, obwohl es erst mit sieben Jahren Verspätung einen | |
deutschen Verlag fand und obwohl es ein Buch über die französische | |
Klassengesellschaft ist, die ganz anders als die deutsche ist. | |
Aber egal, denn was das Buch zu einem großen Buch macht, ist die Analyse | |
von etwas, das zwar in der Gegenwart angesiedelt ist, aber über die | |
deutsche oder französische Aktualität hinausgeht. Das Buch erklärt nicht, | |
wie oft behauptet, den Aufstieg der Rechten und schon gar nicht analysiert | |
es die veränderte Klassenzusammensetzung im Kapitalismus. Es ist ein Buch | |
über die Ordnung unserer Welt, wie Eribon das formuliert, also darüber, wie | |
unsere Herkunft sich in unser Fühlen, Sprechen und Handeln, in unseren | |
Geschmack, unsere Selbstentwürfe und gar in unsere Körper einschreibt. Es | |
handelt von den sozialen und politischen Determinismen, von denen lange | |
niemand mehr in einen so offenen Resonanzraum gesprochen hatte. Eine | |
Erschütterung für jene, die das Lied von der individuellen | |
Handlungsfreiheit sangen. | |
Berührend und durchschlagend war der Einsatz Didier Eribons, weil hier | |
einer aus dem abgesicherten akademischen Jargonknast der Langeweile sich | |
herauswagte, um, scheinbar paradox, der Verletzbarkeit sich auszusetzen, | |
damit die Verletzungen ihn weniger regierten. Eribon vermittelt eine | |
Dringlichkeit, die das akademische Beamtentum nicht herzustellen in der | |
Lage ist, weil die Mittelbauknechte so ausschließlich mit ihren sauberen | |
Katechismen beschäftigt sind, bis sie an jener Déformation professionnelle | |
leiden, die Denken mit Zitieren verwechselt. | |
In seinem nun, mit vier Jahren Verspätung auf Deutsch vorliegendem, man | |
kann sagen Fortsetzungsband mit dem Titel „Gesellschaft als Urteil“ nennt | |
er jene Verletzbarkeit eine „ontologische“: Sie ist fundamental in dem | |
Bezug zur Welt und zu anderen. Ein „Scared gay kid“ sei er bis heute | |
geblieben, obwohl er längst nicht mehr der junge Mann ist, der aus Reims | |
nach Paris aufbrach, um das beinahe Unmögliche wahr zu machen, nämlich als | |
Arbeiterkind aus der Provinz in die höchsten Pariser Intellektuellenkreise | |
aufzusteigen, in jene Welt, die dem schwulen Unglücklichen nach Reims | |
herüberstrahlte wie die Sonne, und Sartre und de Beauvoir ihm wie | |
Passwörter zu einer fremden Welt erscheinen. Sie sind die „Eckpfeiler der | |
Sentimenthek“, die er sich aufbaut, um sich neu erfinden zu können. | |
## „Sujet“ bedeutet zugleich Subjekt und Untertan | |
Zu ihnen kehrt er in „Gesellschaft als Urteil“ zurück, unterzieht ihre und | |
Texte von Claude Simon, Annie Ernaux und Pierre Bourdieu, den er über 20 | |
Jahre täglich sprach und dem er intellektuell am nächsten ist, einer | |
Relektüre und einer kritischen Auseinandersetzung, die häufig etwas | |
ermüdend ist. Bourdieu wirft er vor, in seinen Habitusforschungen seine | |
eigene Kindheit bewusst ausgespart zu haben. Hier sei Bourdieus | |
„Autoanalyse“ an ihre Grenzen gestoßen, Bourdieu habe deshalb seine | |
Parteinahme für die „kleinen Banlieue-Machos“ nicht angemessen reflektieren | |
können. | |
Das ist kein moralischer oder gar rassistischer Vorwurf. Eribon möchte | |
lediglich darauf hinweisen, dass jede „Autoanalyse“ selbstverständlich auch | |
die Selbstidentifikationen in Frage stellen muss, um „immer tiefer in das | |
eigene Selbst einzudringen, in das Gedächtnis des Körpers“. | |
Das Ziel ist die permanente Desidentifikation, könnte man sagen. Denn | |
„Gesellschaft als Urteil“ bedeutet hier: „Das fürchterliche Gesetz des | |
sozialen Determinismus, das jedem Einzelnen einen Platz zuweist, das uns | |
vorschreibt, wie wir uns zu verhalten haben, was wir zu sagen und wer wir | |
zu sein haben.“ Eben so – Michel Foucault wies darauf hin –, wie das | |
französische Wort „sujet“ zugleich Subjekt und Untertan bedeutet: Freiheit | |
und Gewalt sind gleich ursprünglich. | |
## Man kann das ganz schön selbstbezüglich finden | |
„Wenn ich mich im öffentlichen Raum befinde, überwache ich meine Redeweise | |
und meine Gestik.“ Scham und Angst seien seinem Bezug zur Welt körperlich | |
eingeschrieben. Jenen „verkörperten Formen von Inferiorisierung und | |
Unterwerfung“ versucht er auf die Spur zu kommen. Und tatsächlich kommt man | |
in der Begegnung mit Didier Eribon nicht umhin, ihn irgendwie merkwürdig zu | |
finden in seinem Körper. Scheu und leise ist er, fast defensiv, bewegt | |
häufig die Hände zum Mund und steht nie ganz aufrecht. Ein Zugewandter und | |
ein Zweifler, vielleicht. Einer der Ich sagt, aber nicht von sich | |
eingenommen ist. | |
Man könnte das alles, was Eribon in „Rückkehr nach Reims“ und in | |
„Gesellschaft als Urteil“ vorführt, ganz schön selbstbezüglich finden. A… | |
alle, die eine Grenzübertretung aus einer minoritären oder irgendwie | |
abweichenden Gruppe hinter sich haben, wissen, wovon dieser Autor spricht, | |
fabulieren auch andererseits nicht von einem „Meisterwerk“, sondern sind | |
irgendwie ergriffen, vielleicht gar so wie Didier Eribon es auch war, als | |
er einst bei seiner verehrten, geistesverwandten Freundin Annie Ernaux las: | |
„Wenn man selbst aus den beherrschten sozialen Schichten stammt, dann wird | |
die intellektuelle Übereinstimmung mit Bourdieus rigorosen Analysen von | |
einem gelebten Wahrheitsgefühl, ja von einer Garantie der Theorie durch die | |
eigene Erfahrung verdoppelt: Hat man sie einmal an sich selbst oder seinen | |
Nächsten erlebt, ist es nicht länger möglich, die Wirklichkeit der | |
symbolischen Gewalt zu leugnen.“ | |
11 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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