# taz.de -- Wandel der kapitalistischen Gesellschaft: „Kapitalismus schafft D… | |
> Das Erbe und die Reichen: Die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud | |
> Esquerre analysieren eine neue Bereicherungsökonomie. | |
Bild: Die neue Bereicherungsökonomie betreibt Wertschöpfung im Luxusbereich | |
taz: Monsieur Boltanski, Monsieur Esquerre, Sie sagen, die verbreitete | |
These, die westlich-kapitalistischen Gesellschaften seien postindustrielle | |
Gesellschaften, also solche, in der Wissen und Information zur Hauptquelle | |
der Wertschöpfung werden, sei eine „irrige Überzeugung“. Warum? | |
Luc Boltanski: In den westeuropäischen Gesellschaften gibt es mehr | |
Industrieprodukte denn je. Lediglich die Produktion wurde in | |
Niedriglohnländer ausgelagert, und ihre Bedingungen können sogar an die | |
Protoindustrialisierung in den westlichen Gesellschaften erinnern, wenn man | |
sich etwa die Textilfabriken anschaut. Die Entwicklung eines Produkts | |
findet aber immer noch meist in Westeuropa statt. | |
Aber die standardisierten Massenprodukte interessieren Sie ja weniger. | |
Arnaud Esquerre: Nein, es gibt immer noch Standardprodukte, klar, aber wir | |
analysieren eine neue Bereicherungsökonomie, deren Wachstum zusammen mit | |
der Entwicklung der Finanzökonomie und der digitalen Ökonomie begünstigt | |
wurde und einen sehr großen Teil unserer Gesellschaft ausmacht, vor allem | |
in Frankreich. | |
Boltanski: Wir beschreiben den ökonomischen Wandel, der durch die | |
Deindustrialisierung in den westeuropäischen Ländern seit den 1970er Jahren | |
eingesetzt hat, und den damit zusammenhängenden Wandel der Ausbeutung von | |
Ressourcen, die nicht neu sind, aber eine völlig neue Bedeutung bekommen | |
haben: die Künste, die Kultur, der Antiquitätenhandel, die Luxusindustrie, | |
die Patrimonialisierung und der Tourismus. | |
Wie tiefgreifend ist dieser Wandel, rufen Sie eine neue Form des | |
Kapitalismus, den Bereicherungskapitalismus, aus? | |
Boltanski: Wir sprechen von Vollkapitalismus. Das ist ein Kapitalismus, der | |
verschiedene Weisen, Werte zu schaffen, miteinander verknüpft. | |
Der Nachkriegskapitalismus fokussierte für seine standardisierten Waren wie | |
Autos und Haushaltsgeräte die Mittelschicht und dann die Arbeiterklasse. | |
Ihre Bereicherungsökonomie ist adressiert vor allem an Reiche, oder? | |
Esquerre: Es gibt eine spürbare ökonomische Neuausrichtung der | |
westeuropäischen Länder auf Güter, die zur Befriedigung der Nachfrage der | |
Reichen und Superreichen angeboten werden. | |
Sie zeigen, dass ihre Zahl gestiegen ist. | |
Boltanski: Ja, in den letzten zwanzig Jahren. Die Zahl der Reichen und | |
Superreichen wächst auch in den Schwellenländern. Sie profitieren von | |
Finanzgeschäften oder Gewinnen, die durch die Industrialisierung generiert | |
wurden. Das alles ist mit einem sehr tiefen sozialen Wandel verbunden. Vor | |
fünfzig Jahren waren der Norden und der Nordosten Frankreichs | |
Industrieregionen, jetzt sind sie sehr arm, mit großer Arbeitslosigkeit. | |
Einige Regionen des Südens, wie die Provence, die sehr arm waren, sind | |
hingegen mittlerweile reicher: Wir sehen Tourismus, Dienstleistung, die | |
Übernahme von Immobilien, die im Niedergang begriffen waren, aber auch neue | |
Hausangestellte. | |
Das Hauptmerkmal der Bereicherungsökonomie scheint mir, dass sie nicht | |
produziert, sondern Wert aus bereits vorhandenen Dingen schöpft. Wie | |
funktioniert diese Anreicherung? | |
Boltanski: Die Kastanie der Cervennen, einst mit Armut assoziiert, kann zum | |
Luxusgut werden. Orte, die als Kulturerbe bewertet werden, haben einen | |
Effekt auf Tourismus wie auch auf Immobilienpreise. Einige Makler sprechen | |
an entsprechenden Orten von ihren Objekten als Sammlerimmobilie. | |
Esquerre: Bei jedem Standardobjekt sinkt der Preis mit der Zeit. Die | |
Bereicherungsökonomie hingegen zielt auf die Schaffung eines | |
„Sammlereffekts“, auf die Verbindung mit einer Geschichte, einer | |
Persönlichkeit oder einem Ereignis. | |
Was verbindet die Hermès Bag mit den Cervennen? | |
Esquerre: Das war exakt unsere Frage. Was ist eigentlich das Verbindende | |
zwischen den Dingen, die kulturell angereichert werden? Das Verbindende ist | |
die Ausbeutung der Vergangenheit. Sie müssen ein Narrativ erfinden. Dieses | |
Narrativ ist jedoch eine Fiktion. Sie macht eine Vorstellung von der | |
Vergangenheit und die Einbettung einer heraufbeschworenden Vergangenheit in | |
ein und derselben Geschichte möglich. | |
Das heißt, es geht um die Hoheit über die Narrative? | |
Esquerre: In der Industrieökonomie ist die Verbindung zur Zeitlichkeit die | |
Gegenwart, deshalb war die Kritik eine Kritik an der Konsumgesellschaft, | |
weil sie nur in der Gegenwart war. In der Anreicherungswirtschaft hingegen | |
gibt es einen Link zur Vergangenheit. Sie ist mit dem Profit verbunden. | |
Das sind Aneignungsprozesse. Geht es um eine bestimmte Erzählung der | |
Vergangenheit? | |
Esquerre: Sie ist eine Fiktion, und weil sie sich mit ganz bestimmten | |
Gütern oder einem bestimmten Denkmal verbindet, ruft sie eine überzeitliche | |
Gemeinschaft auf. In dieser Erzählung sind natürlich viele nicht | |
repräsentiert, und deshalb ist die Frage, wer sie kontrolliert absolut | |
zentral und eine politische. Man muss die schönste Vergangenheit | |
präsentieren, weil man sie verkaufen muss. Es gibt eine Verbindung zwischen | |
dieser Art von Wertschöpfung und dem homogenisierenden nationalistischen | |
Diskurs. | |
Boltanski: Ein sehr berühmter französischer Historiker, Pierre Nora, hat | |
ein kollektives Werk veröffentlicht, das viele Historiker mobilisiert hat, | |
es heißt „Les Lieux de mémoire“ [Deutsch: „Erinnerungsorte Frankreichs�… | |
Aus heutiger Perspektive begleitet es die Bereicherungsökonomie und die | |
Entwicklung einer Identitätspolitik. Heute haben sie in Frankreich | |
Bestrebungen, etwa in einer Stadt im Süden, Araber aus der Stadt | |
auszusiedeln, um die Stadt schöner zu machen. All das ist verbunden mit | |
Wertschöpfungsmechanismen im Bereich der Patrimonialisierung etwa. | |
Das klingt nach völlig neuen Formen von Transzendenz und Warenfetischismus. | |
Boltanski: Nein, Sie spielen auf Marx und den Fetischcharakter der Ware an. | |
Ich glaube jedoch, das Konzept des Warenfetischs ist selbst ein | |
transzendentes Konzept, weil es unterstellt, dass es etwas Böses in der | |
Ware gibt. Wir versuchen diesen religiösen Charakter, der bei Marx noch | |
vorhanden ist, zu überwinden, und fragen nur, wie der Kapitalismus | |
funktioniert. Wir möchten die ganze Moral, die auch in der | |
Verdinglichungstheorie steckt, weglassen, weil man sonst über Liebe | |
statt über Ökonomie sprechen muss. | |
Für Adorno war gerade die Kunst das letzte Refugium der Zivilisation gegen | |
die kulturindustrielle Barbarei. | |
Boltanski: Die Kunst ist dort ein Universum, in dem man der | |
Standardproduktion und dem Kapitalismus entkommen kann. Das ist bei Guy | |
Debord auch so. Aber von diesem Standpunkt aus ist es nicht möglich, die | |
neue Entwicklung des Kapitalismus zu verstehen. Es ist zu einfach, Kunst in | |
die Position der Religion zu bringen und von dort aus gleichzeitig den | |
Kapitalismus, die Automatisierung, die Maschine, die Fabriken, die | |
Standardisierung, die Modernität zu kritisieren. Ein großer Teil des | |
Kapitalismus reproduziert sich genau durch den Modus, in dem diese | |
Theoretiker eine Zuflucht vor ihm gesehen haben. Man muss also sehr | |
atheistisch werden, um einen materialistischen Standpunkt einzunehmen und | |
zu analysieren, was jetzt mit dem Kapitalismus geschieht. Das | |
Hauptproblem ist nicht die Entfremdung, sondern die größer und | |
unerträglich werdende Ungleichheit. | |
Esquerre: Das sieht man doch in Kassel – ein gutes Beispiel für die | |
Bereicherungsökonomie. Die Documenta scheint der kapitalismuskritischste | |
Ort schlechthin. Doch sie ist ein entscheidender Teil eines Ensembles aus | |
Vergangenheitsfiktion (Museen), Tourismus (Restaurant, Hotels, Airbnb), | |
Sammlerform und Finanzökonomie (Sponsoren). | |
Wenn es vor allem um die Anreicherung geht, würden Sie dann sagen, dass der | |
gegenwärtige Kapitalismus nichts Neues mehr hervorbringt? | |
Retrokapitalismus? | |
Boltanski: Diese Denkfigur ist mit dem verbunden, was wir Standardform | |
nennen. Die Erfindung der Standardform war eine ontologische Veränderung | |
für die Menschheit, denn nie zuvor gab es zwei Dinge, die vorgeben konnten, | |
absolut gleich zu sein, nicht in der Natur und nicht in der Kultur. Damit | |
verbunden war das Denken, die ganze Welt werde durch den Kapitalismus | |
vereinheitlicht und der Mensch durch die Standardform entfremdet. Aber in | |
Wirklichkeit hat der Kapitalismus immer nur durch die Nutzung von | |
Unterschieden funktioniert und sich mit dem Wissen verbunden, weil Wissen | |
Unterschiede erzeugt. Das haben wir bei Fernand Braudel gelernt, der eines | |
der Hauptmerkmale des Kapitalismus in der Nutzung der Ausdifferenzierung | |
sah. Die Vulgärkritik des Neoliberalismus vergisst das. Ein bestimmtes Bild | |
oder Gemälde kann im Atelier eines Malers in Dijon nichts sein und in New | |
York sehr viel. Viele Linke haben die Bedeutung der Bereicherungsökonomie | |
nicht erkannt, sie sind für einen Wiederaufbau der industriellen Wirtschaft | |
eingetreten, statt die steigende Zahl der prekären Arbeit in der | |
Bereicherungsökonomie zu erkennen. | |
Esquerre: Der Kapitalismus schafft Differenzen. Deshalb ist die These der | |
Uniformisierung von Kunst und Kultur falsch. Für den Kapitalismus ist das | |
Wichtigste, Differenzen zu schaffen. Ja, die Hauptressource der | |
Bereicherungsökonomie besteht in der Herstellung und Neugestaltung von | |
Differenzen und Identitäten. | |
16 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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