# taz.de -- Reportage-Essay „Arme Leute“: Tastende Ethik | |
> Der Schriftsteller William T. Vollmann porträtiert arme Menschen – und | |
> bewegt sich auf der Grenze zwischen Privilegierten und Diskriminierten. | |
Bild: „Ob arm oder reich, was wir alle gemeinsam haben, sind Sterblichkeit un… | |
Am Ende des Buchs, wo sonst oft die Quellenangaben stehen, sind 128 | |
Schwarzweißfotografien abgedruckt, die William T. Vollmann von Menschen | |
gemacht hat, mit denen er für seinen Reportage-Essay „Arme Leute“ | |
gesprochen hat. Dieser Bilderschatz zeigt, wem der Autor begegnet ist: | |
Männern, Frauen, manchmal auch Kindern in ihren Behausungen oder auf den | |
Trümmern derselben, bei der Arbeit, im Schlaf, allein oder in Gesellschaft. | |
„Jede Primärquelle ist kostbar“, heißt es in der Einleitung. Immer wieder | |
blättert man zu ihnen zurück. Manche tauchen nur flüchtig, vielleicht in | |
einem einzelnen Satz auf, andere sind Protagonist*innen eines ganzen | |
Kapitels, wie zum Beispiel die Moskauer Bettlerinnen Oksana und Natalia, | |
deren Fotoporträt, wie Vollmann in einem Nebensatz überraschend gesteht, | |
für ihn das schönste des ganzen Buchs ist. | |
Dieses Bild Nr. 32 zeigt eine ältere Frau mit praktischem Kurzhaarschnitt | |
und Anorak, die man an der Bushaltestelle oder vor dem Supermarkt | |
garantiert übersehen würde. Ihr rundes, ein wenig aufgedunsenes Gesicht ist | |
leicht asymmetrisch: Links hängt das Augenlid, schneidet die Falte tiefer | |
in die Wange, weist der Mundwinkel nach unten. Rechts dagegen lächelt sie | |
sogar, blickt ihr Auge strahlend und neugierig unter weit hochgezogener | |
Braue in die Welt. | |
Doch warum sie und nicht die schöne Madegassin mit dem trostlosen Blick | |
oder das fröhliche Mädchen mit dem grotesk verwachsenen Nasenhöcker? | |
Natalia ist psychisch krank, hat vor Jahren ihre Kinder sitzen gelassen (in | |
ihrer Version der Geschichte hatte sie krankheitsbedingt keine Wahl) und | |
schlägt sich mit Geschichtenerzählen durch. Vielleicht ist Letzteres der | |
Grund, weshalb Vollmann sich ihr besonders verbunden fühlt. | |
Der 1959 in Los Angeles geborene Schriftsteller, der neben seinem | |
umfangreichen Prosa-Œuvre auch mehrere dicke Sachbücher verfasst hat, | |
scheint besessen von prekären bis apokalyptischen Lebensumständen und | |
Szenarien. Er hat mehrere Bücher über Prostituierte geschrieben sowie eine | |
umfangreiche Studie über Gewalt; gerade erschienen in den USA zwei Bände, | |
„Carbon Ideologies“, über die Folgen unseres maßlosen Energieverbrauchs. | |
## Kein zweites „Kapital“ | |
„Poor People“, das in den USA bereits 2007 herauskam (und nun, elf Jahr | |
später, in der deutschen Übersetzung von Robin Detje), setzt sich aus | |
Reportagen zusammen, die zwischen den 90er und Nullerjahren entstanden sind | |
und die Vollmann in einen systematischen Bezug zueinander zu setzen | |
versucht. | |
Nicht im Sinne einer sozioökonomischen Theorie oder gar eines zweiten | |
„Kapitals“, auch nicht im Sinne eines politischen Programms zur | |
Armutsbekämpfung – Vollmann hofft vielmehr, aus dem Vergleich von | |
Einzelfällen an verschiedenen Orten der Welt Muster der Bedingungen für, | |
aber auch der Folgen von Armut ablesen zu können. | |
Muster von Armutskriterien – etwa der vom Autor zitierten Vereinten | |
Nationen – gibt es tatsächlich; sie finden sich vor allem in den | |
Kapitelüberschriften wie Unsichtbarkeit, Unerwünschtsein, Abhängigkeit, | |
Schmerz, Entfremdung wieder. Doch interessanter noch als diese | |
Systematisierung ist Vollmanns Methode, überhaupt Material für sein im | |
Grenzgebiet von Literatur, Anthropologie und Ethik angesiedeltes Essay zu | |
erschließen. | |
Dazu verlässt er die Deckung des angelesenen Wissens – Adam Smith, Jean | |
Jacques Rousseau und natürlich Henry David Thoreau haben dennoch | |
Kurzauftritte – wie auch der sozialwissenschaftlichen Datenerhebung und | |
begibt sich auf abenteuerliche Augenhöhe, setzt sich leibhaftig Begegnungen | |
aus, die viele normalerweise scheuen. | |
## Diverse Befragte – diverse Antworten | |
Weil er nicht von eigenen Armutserfahrungen ausgehen kann – aus einer | |
weißen Akademikerfamilie stammend und selbst hochschulgebildet weiß er um | |
seine Privilegiertheit –, konfrontiert er die „Primärquellen“ mit Fragen | |
nach ihrem Besitzstand („Bist du [1][arm oder reich?]“) und Gründen für | |
Ungleichheit („Warum gibt es arm und reich?“). | |
Die Antworten sind so divers wie die Befragten. Und Vollmann klammert nicht | |
aus, unter welchen Bedingungen sie gegeben werden: Er bezahlt sein | |
Gegenüber für die Bereitschaft, mit dem Schriftsteller zu sprechen (das | |
Kapitel über die Prostitution und Menschenhandel zwischen China und Japan | |
betreibenden „Snakeheads“, verrät er an einer Stelle, kostet ihn zwischen | |
5.000 und 8.000 Dollar), und er bezahlt seine Dolmetscher, denen das Buch | |
denn auch gewidmet ist. | |
Die Armen zu Protagonisten und sich selbst zum Antagonisten zu machen, zum | |
Mit-, aber auch Gegenspieler, ist ein in vielerlei Hinsicht gefährdetes | |
Unterfangen, das nicht immer gleich gut gelingt. Fast eine ganze Woche lang | |
trifft Vollmann die meist betrunkene thailändische Putzfrau Sunee und | |
erhält Einblick in ihre tristen und engen Lebensräume – sie haust auf | |
wenigen fensterlosen Quadratmetern ohne Intimsphäre, hasst ihre Arbeit und | |
versäuft ihr kleines Einkommen gleich wieder. | |
Sunees Alkoholismus mindert auch die wenigen Chancen ihrer hübschen Tochter | |
Vimonrat, sich durch Schulbildung aus dem Elend der Mutter (und Großmutter) | |
herauszuarbeiten: Als Vollmann der Familie Geld schenkt, ist absehbar, wo | |
es landet. | |
## Kein Urteil | |
Dass Vollmann präzise Beschreibungen nie elendspornografisch geraten, liegt | |
auch daran, dass er jedes potenzielle Urteil, etwa über Sunees Sucht oder | |
Selbstsedierung, sogleich reflektiert: „Wer bin ich, zu urteilen“, lautet | |
die Formel, mit der Vollmann sich gleichsam selbst auf die | |
paternalistischen Finger haut. Sie lässt sich auch umgekehrt anwenden: Wer | |
bin ich, die anderen an der Mehrung ihres Wohlstands zu hindern? | |
Mitunter reicht das Budget nicht, um die Leute zum Reden zu bringen, so | |
mächtig sind die Abhängigkeiten. In der kasachischen Kleinstadt Sarykamys, | |
wo der US-amerikanisch-kasachische Konzern Tengizchevroil anscheinend unter | |
Nichtachtung wenn überhaupt vorhandener Umweltauflagen gigantische Mengen | |
Erdöl fördert, springen nach und nach sämtlich Interviewpartner*innen | |
ab. | |
Nicht mal im örtlichen Krankenhaus, das aus allen Nähten platzt, wollen | |
Ärztinnen Auskunft geben. Am Ende konzentriert sich Vollmann auf die | |
Beschreibung von Holzornamenten, die die Bewohner von Sarykamys in besseren | |
oder anders schlechten Zeiten an den Wänden ihrer Häuschen angebracht | |
haben: Zeichen von Gestaltungslust sind rar, wenn es ums Überleben geht. | |
Auch William Vollmann selbst gibt manchmal Rätsel auf: Wie mag der große | |
weiße Amerikaner, der auf Fotos oft etwas unheimlich aussieht, seinerseits | |
auf die Armen wirken? Schläft er mit den schwarzen Prostituierten im | |
Kapitel „Schmutzige Toiletten“, oder wird er nur zum Spielball ihrer | |
Machtkämpfe? Könnten Frauen Angst vor ihm haben wie vielleicht Oksanas | |
Enkelin Marina, die ihn (als Einzige in der fünfköpfigen Familie von | |
Tschernobyl-Strahlenopfern) lieber nicht sprechen will, wenn er zu Besuch | |
kommt? | |
## Zwischen Schuldgefühlen und Verlustangst | |
Vollmann schont sich nicht, bleibt skrupulös in seinem Mitleid und | |
misstrauisch gegen sein Helferimpuls – am eindrücklichsten im Kapitel „Ich | |
weiß, dass ich reich bin“ am Ende des Buchs, das von Vollmanns | |
„kleinbürgerlichem“ Besitz handelt, einem ehemaligen Restaurant auf einem | |
Parkplatz in Sacramento, auf dem ständig [2][Obdachlose kampieren.] | |
Der Autor schildert einen Drahtseilakt zwischen Schuldgefühl und | |
Verlustangst: Er schwatzt mit den Parkplatzbewohnern, bringt ihnen | |
gelegentlich eine Flasche Alkohol oder etwas zu essen vorbei und arbeitet | |
an einer guten Nachbarschaft. Andererseits zieht er aber auch eine klare | |
Grenze zwischen sich und ihnen: Nachdem er nachts mehrfach in an sein | |
Fenster gepresste Gesichter geblickt hat, verklebt er sie mit Alufolie und | |
lässt Stahlgitter davor montieren. | |
Als einmal ein Obdachloser bei offener Tür in seine Wohnung schlüpft, setzt | |
Vollmann ihn energisch an die Luft – und stellt sich später zu ihm in den | |
Regen hinaus, um den Rausschmiss wiedergutzumachen. Sein größtes Ärgernis | |
aber ist der Kot, der regelmäßig an seiner Hauswand hängt und nur mithilfe | |
teurer Hochdruckstrahler zu entfernen ist. | |
## Keine Lösung, nur Desillusionierung | |
Im Bespielen und Umspielen dieser mal beschissen konkreten, mal nahezu | |
unsichtbaren Grenze zwischen Arm und Reich, Privilegierten und | |
Diskriminierten liegt die erschütternde Stärke von „Arme Leute“. Während | |
Vollmanns Systematisierungsabsichten immer weiter in den Hintergrund | |
rücken, unterläuft und gelingt ihm so etwas wie eine tastende Ethik (nicht: | |
Moral) im Angesicht erdrückender Ungleichheit. | |
Wie kann man sich unter diesen Voraussetzungen überhaupt begegnen? Vollmann | |
hat keine Lösung parat, nur Desillusionierung: „Was ist es, was ich Ihnen | |
so dringend sagen möchte (…)? Dass für mich aus irgendeinem Grund Natalias | |
Gesicht das schönste von allen Menschen in diesem Buch ist? Mein | |
Herzensgeplapper kann man vernachlässigen, genau wie alle Einzelmenschen, | |
die es betrifft, Sie und mich eingeschlossen. Ob arm oder reich, was wir | |
alle gemeinsam haben, sind Sterblichkeit und Bedeutungslosigkeit.“ | |
Eine Gemeinsamkeit der Negation, aber immerhin: eine Gemeinsamkeit. | |
15 Jul 2018 | |
## LINKS | |
[1] /OECD-Studie-zu-sozialer-Mobilitaet/!5513444 | |
[2] /Sozialaemter-und-Obdachlose/!5469462 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
## TAGS | |
Obdachlosigkeit | |
Schwerpunkt Armut | |
Literatur | |
William T. Vollmann | |
Literatur | |
Kapitalismus | |
Russische Literatur | |
taz.gazete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
US-Autor William T. Vollmann: „Ich mache, was ich will“ | |
Der US-Schriftsteller und Sozialkritiker William T. Vollmann begab sich | |
unter Gotteskrieger und arme Leute. Ein taz-Gespräch zu seinem 60. | |
Geburtstag. | |
Maggie Nelsons Buch über die Farbe Blau: Stil got the blues | |
Die blaue Stunde, blau sein, blaue Flecken davontragen: In dieser Farbe | |
steckt die ganze Welt. Die Autorin Maggie Nelson widmet ihr ein ganzes | |
Buch. | |
Wandel der kapitalistischen Gesellschaft: „Kapitalismus schafft Differenzen“ | |
Das Erbe und die Reichen: Die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre | |
analysieren eine neue Bereicherungsökonomie. | |
Russischer Roman „Tschewengur“: Der kurze Sommer des Kommunismus | |
Über Todessehnsucht, Pferde und die Liebe zu Rosa Luxemburg: Andrej | |
Platonows Dystopie „Tschewengur“ ist neu übersetzt worden. | |
Wie das Strafsystem Gesellschaft macht: Wozu Knast? | |
Gefängnisse sind von grundlegender Bedeutung für die moderne Gesellschaft: | |
Denn sie definieren, was sein darf und was nicht. |