| # taz.de -- Wie das Strafsystem Gesellschaft macht: Wozu Knast? | |
| > Gefängnisse sind von grundlegender Bedeutung für die moderne | |
| > Gesellschaft: Denn sie definieren, was sein darf und was nicht. | |
| Bild: Die Forderung, Gefängnisse abzuschaffen, ist radikal: Sie bedeutet, die … | |
| Was ein Gefängnis ist, lernt man schon als Kind: Ein Ort, an dem Menschen | |
| gegen ihren Willen weggesperrt werden. Sie werden aus dem Verkehr gezogen, | |
| weil sie sich nicht an bestimmte Regeln, Gesetze, hielten. Ich kann mich | |
| nicht erinnern, als Kind je eine Haftanstalt gesehen zu haben. In meiner | |
| Welt war das Gefängnis lange nur abstrakt. Es gab dennoch keinen Grund, an | |
| dessen Existenz zu zweifeln. Wie ich später erfuhr, gab es in Bremerhaven, | |
| wo ich aufwuchs, durchaus eine JVA. Allerdings in einem für mich | |
| unsichtbaren Bereich: in Randlage im nördlichen Stadtgebiet. | |
| In Hamburg ist das anders, da leistet sich die Stadt immer noch eine | |
| Haftanstalt im Herzen der Stadt. Hinter den Mauern sitzen Menschen in | |
| Untersuchungshaft, die noch auf eine Bestrafung oder einen Freispruch | |
| warten. Wer davorsteht, versteht: Das Untersuchungsgefängnis ist mehr als | |
| ein Ort des Wegsperrens. Es ist ein Marker der Einschüchterung. | |
| Die Vermittlung dessen, was erlaubt ist und was nicht, ist Gegenstand der | |
| Erziehung: Eltern ist es in der Regel am wenigsten egal, was mit ihren | |
| Kindern passiert, und sie wollen ihnen eine Zukunft hinter Gittern | |
| ersparen. Doch wer das Warum des Gefängnisses verstehen will, sollte einen | |
| Schritt zurückzutreten und die Angelegenheit mit etwas mehr Abstand | |
| betrachten. | |
| In dem [1][Buch „Überwachen und Strafen“] aus dem Jahr 1975 beschreibt der | |
| französische Philosoph und Historiker Michel Foucault, wie Europas | |
| Strafsysteme entstanden sind, wie aus einem Subjekt ein Gefangener wird. | |
| Und er zeigt, dass die moderne Gesellschaft auf Kontrolle und Überwachen | |
| beruht. | |
| Die Auswirkungen sind nicht zu unterschätzen: Überwachen ist mehr als | |
| Repression – und es macht nicht nur etwas mit dem Überwachten, sondern | |
| prägt im weiteren Sinne auch die ganze Gesellschaft. Die Macht, die aus | |
| einer sozialen Institution wie dem Gefängnis spricht, ist für Foucault | |
| produktiv. Das heißt, sie sorgt dafür, dass die Gesellschaft ist, wie sie | |
| ist, sie verschafft ihr Ordnung und reproduziert sie wieder. | |
| ## Das idealtypische Gefängnis ist das Panoptikum | |
| Das Denken Foucaults ist das eines Kritikers und es bewegt sich von außen | |
| nach innen: Er erklärt die Gesellschaft vom Rand her, also von den Orten | |
| und Anstalten der Internierung und Disziplinierung. Der Spielraum, der den | |
| Subjekten bleibt, innerhalb dieser Gesellschaft zu leben, ohne unangenehm | |
| aufzufallen, lässt sich an den Grenzen umreißen. Für diesen Umriss hat sich | |
| Foucault, Kind eines Medizinprofessors, interessiert. Foucault war aber | |
| nicht nur ein entfernter Beobachter, er arbeitete selbst eine Zeit lang im | |
| Gefängnis. | |
| Das idealtypische Gefängnis ist für Foucault der architektonische Entwurf | |
| des [2][Panoptikums von Jeremy Bentham]. Es zeichnet sich dadurch aus, dass | |
| der Beobachter von einem zentralen Turm aus jeden Zelleninsassen potenziell | |
| beobachten kann. Das heißt, schon die Möglichkeit, dass sie beobachtet | |
| werden können, wirkt sich auf ihr Verhalten aus: Sie passen sich an. Aus | |
| diesen Überwachungs- und Kontrollmechanismen leitet Foucault eine soziale | |
| Konformisierung des Einzelnen ab, die im 18. Jahrhundert beginnt. | |
| Foucaults Antwort auf die Frage, warum es Gefängnisse gibt, wäre: Weil sie | |
| konstitutiv sind für diese Gesellschaft. Seine Gesellschaftskritik ist auch | |
| eine Gefängniskritik. Doch die Mauern sind dick. Die Forderung, Gefängnisse | |
| abzuschaffen, ist in diesem Sinne radikal. Sie würde bedeuten, die Mauern | |
| der Gesellschaft ins Wanken zu bringen. | |
| Dieser Artikel ist Teil des Wochenendschwerpunkts „Wozu Knast“ der taz | |
| nord. Mehr dazu [3][gibt es hier]. | |
| 15 Jul 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cberwachen_und_Strafen | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Panopticon | |
| [3] /Gefaengnis-Insasse-ueber-seine-Haft/!5519231 | |
| ## AUTOREN | |
| Lena Kaiser | |
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