# taz.de -- taz-Sonderausgabe zu Utopie: „Gut und böse muss aus den Köpfen�… | |
> Sind Gefängnis und das Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“ noch | |
> zeitgemäß? Hannah Hettich und ihr Kollektiv fragen nach einem neuen | |
> Umgang mit Gewalt. | |
Bild: Wozu Knast? Die Gesellschaft kennt bessere Antworten, sagt Hanna Hettich … | |
taz: Frau Hettich, was ist das Problem mit unserem Justizsystem? | |
Hannah Hettich: Die meisten von uns wachsen mit einer Praxis des Strafens | |
auf: Macht man als Kind etwas „Böses“, muss man eine Strafarbeit | |
schreiben. Verhält sich ein Mensch gegenüber anderen gewaltvoll, folgt der | |
Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dem liegt der Glaube zugrunde, damit sei | |
die Gemeinschaft wieder sicher. Dieser Gedanke findet sich auch im | |
Strafsystem. [1][Transformative Gerechtigkeit beginnt] sozusagen einen | |
Schritt früher und geht davon aus, dass der Status quo die Gewalt erst | |
ermöglicht hat. | |
Nach diesem Ansatz würde man Gewalt ausüben und dem System die Schuld | |
geben. Wie soll das gerecht sein? | |
Gewalt ist oft facettenreich und subjektiv. Ausgangspunkt sollte sein, der | |
von Gewalt betroffenen Person zu glauben. Betroffene von Gewalt sollten | |
nichts beweisen müssen. Das ist im staatlichen Strafsystem aber noch | |
anders, in dem das Prinzip „Im Zweifel für den Angeklagten“ gilt. | |
Betroffene sind also in unserem jetzigen Justizsystem nicht wirklich | |
geschützt. Bei Transformativer Gerechtigkeit liegt der Fokus nicht auf | |
Rache und Bestrafung, sondern auf Heilung und auf Veränderung von Verhalten | |
und Strukturen. Es geht darum, Menschen zu begleiten und als Gemeinschaft | |
die Sicherheit für Betroffene wiederherzustellen. | |
Was gehört zu so einer Begleitung alles dazu? | |
Veränderung und Gerechtigkeit müssen ganzheitlich verstanden werden. Was | |
braucht die gewaltbetroffene Person, damit sie heilen kann? Es bedeutet | |
aber auch, die Person, [2][die die Gewalt ausgeübt hat], in der | |
Aufarbeitung ihrer Taten zu begleiten. Außerdem nimmt man auch die Gruppe | |
in Verantwortung: Müssen wir über Bilder von Männlichkeit reden oder über | |
Alkoholkonsum in Räumen nachdenken? Wie sprechen wir miteinander? Wo ist | |
Raum für Unsicherheiten, wo für Emotionen? Wie stark ist das gegenseitige | |
Vertrauen? Das und vieles mehr hat Einfluss darauf, wie Gewalt entsteht. In | |
unseren Workshops merken wir: Der Wunsch zu lernen, wie in Gruppen mit | |
Gewalt umgegangen werden kann, ist sehr groß. | |
Wie können die gewaltbetroffenen Personen geschützt werden, wenn beide | |
Parteien in der Gemeinschaft verblieben sind? | |
Das ist sehr individuell und bei einer Wohngruppe natürlich anders als in | |
einem Verein. Es können langfristige Vereinbarung über Triggerpunkte, Nähe | |
und Abstand im Gemeinschaftsalltag getroffen werden. Wo und wann sind zum | |
Beispiel getrennte Räume nützlich? Wer fühlt sich dafür verantwortlich, der | |
gewaltausübenden Person ihre problematischen Muster bei einem „Rückfall“ … | |
spiegeln? Die betroffene Person braucht das nicht zu tun. Die Arbeit mit | |
Transformativer Gerechtigkeit ist sehr anstrengend und oft sehr emotional. | |
Aber das darf es auch sein. Es darf etwas mit uns machen, wenn Gewalt in | |
unseren Räumen geschieht. | |
Warum fällt es vielen so schwer, sich Alternativen zum Justizsystem und zu | |
Gefängnissen vorzustellen? | |
In vielen Köpfen herrscht ein binäres Denken, das heißt, man denkt, alles | |
ist entweder gut oder schlecht. Im Strafsystem findet sich das in Begriffen | |
wie „Täter“ und „Opfer“ wieder. Das gewaltvolle Erlebnis wird damit zur | |
Identitätszuschreibung. Damit ist kaum Platz für Veränderung. In der | |
Transformativen Gerechtigkeit spricht man daher von „gewaltausübender“ und | |
„gewaltbetroffener Person“. Die Praxis kommt aus der Abolitionismusbewegung | |
der 80er und 90er Jahre und entstand in den USA. | |
Damals erstarkte die Schwarze Widerstandsbewegung gegen Gefängnisse, die | |
als Institutionen dazu genutzt wurden, Menschen nach Ende der Versklavung | |
weiter auszubeuten. Menschen of Color, queere Menschen und | |
Trans*personen haben die Praxis der Transformativen Gerechtigkeit sehr | |
geprägt und tun dies nach wie vor. Gerade diese Gruppen sind von | |
rassistischer, trans*- und queerfeindlicher Gewalt betroffen, die sie auch | |
von staatlicher Seite erleben. Denn ein Gang zur Polizei bedeutet oft nur | |
[3][noch mehr Gewalt]. | |
Wie kriegen wir dieses binäre Denken in den Kategorien „Gut“ und „Böse�… | |
unseren Köpfen raus? | |
Wir müssen die komplexen Zusammenhänge verstehen, die hinter Gewalt | |
stecken. Sobald zum Beispiel über Rassismus gesprochen wird, betonen viele | |
weiße Menschen als Erstes, keine Rassist:innen zu sein. Gesellschaftlich | |
scheint wenig Bewusstsein darüber zu existieren, dass wir in einem | |
rassistischen System sozialisiert wurden und uns daher auch rassistisch, | |
also gewaltvoll, verhalten oder anderes gewaltvolles Verhalten | |
reproduzieren. Das muss nicht absichtlich passieren, aber es passiert. Das | |
anzuerkennen kann befreiend sein. Man kann auf einmal fragen: Wie übernehme | |
ich Verantwortung, statt in eine Abwehrhaltung zu verfallen, um das | |
Selbstbild von sich als einen „guten Menschen“ zu schützen. | |
26 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Frederike Grund | |
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