# taz.de -- Russischer Roman „Tschewengur“: Der kurze Sommer des Kommunismus | |
> Über Todessehnsucht, Pferde und die Liebe zu Rosa Luxemburg: Andrej | |
> Platonows Dystopie „Tschewengur“ ist neu übersetzt worden. | |
Bild: Holz-Babuschkas. Die Frauen im Roman sind vor allem Mütter und Projektio… | |
Wenn man die beiden Romane des Andrej Platonow liest, ist es schwer | |
vorstellbar, dass der Autor von „Die Baugrube“ (die deutsche | |
Erstübersetzung erschien 2016) und „Tschewengur“ tatsächlich dreimal einen | |
Antrag auf Aufnahme in die Kommunistische Partei der Sowjetunion stellte. | |
Der Antrag wurde jedes Mal abgelehnt. Doch Platonow (1899–1951) war | |
überzeugter Kommunist – und zudem muss er wirklich geglaubt haben, in | |
„Tschewengur“ den „Anfang der kommunistischen Gesellschaft“ dargestellt… | |
haben. So schrieb er jedenfalls in einem Brief an den hochverehrten Maxim | |
Gorki, an den er sich Ende der zwanziger Jahre mit der Bitte um | |
Unterstützung bei der Veröffentlichung seines Hauptwerks wandte. | |
Gorki wiederum fand zwar lobende Worte für den Roman, hielt es aber für | |
unwahrscheinlich, dass dieser die Zensur passieren würde. Das geschah auch | |
nicht. Im Jahr 1929 bereits für den Druck vorbereitet, wurde „Tschewengur“ | |
vom Zensor einbehalten. Die erste russische – tatsächlich noch: sowjetische | |
– Ausgabe erschien ganze sechzig Jahre später: 1988. Eine erste deutsche | |
Übersetzung kam in den siebziger Jahren bei Luchterhand heraus, in der DDR | |
konnte der Roman vor der Wende nicht erscheinen. Die jetzige Übersetzung | |
ist eine mit dem Original abgeglichene Überarbeitung jener Ausgabe, die | |
1990 im Verlag Volk und Welt erschien. | |
Tschewengur ist der Name einer fiktiven Stadt in der Weite der russischen | |
Steppe, deren Bewohner behaupten und glauben, den Kommunismus bei sich | |
errichtet zu haben. In diese Stadt gerät nach und nach auch Sascha Dwanow, | |
ein junger Mann, der so etwas wie die Hauptfigur in diesem Roman ist und | |
dessen trauriges Kindheitsschicksal eine Art Prolog bildet zur Schilderung | |
des Treibens in Tschewengur. Saschas Vater, ein Fischer, hatte sich aus | |
Neugier auf das, was im Tode sein wird („er wollte vor allem sehen, was es | |
dort gab“), ertränkt. Der Junge, nunmehr Vollwaise, wird aufgenommen von | |
einer kinderreichen Familie im selben Dorf, aber gehasst vom gleichaltrigen | |
Stiefbruder Prokofi, der, als eine Hungersnot ansteht, die Gelegenheit | |
nutzt, den zusätzlichen Esser vom Hof zu treiben. (Auch Prokofi wird man | |
später in Tschewengur wiedertreffen.) Doch in einer nahegelegenen Stadt | |
findet Sascha einen väterlichen Freund im alten Sachar Pawlowitsch, der | |
seine neue Familie wird. | |
## Das Leben der Gemeinschaft | |
Dieses Motiv des Verlorenseins und Aufgenommenwerdens zieht sich durch den | |
gesamten Roman. Vorerst, als es den Tschewengurer Kommunismus noch nicht | |
gibt, ist der junge Sascha darauf angewiesen, hier und da einen guten | |
Menschen zu finden, der sich seiner annimmt. Tschewengur dann wird ein | |
geradezu programmatisches Aufnahmelager sein – eigentlich für echte | |
Proletarier, dann aber doch eher, als jene nicht so einfach zu finden sind, | |
für einen Haufen verlorener Seelen, die von den Bewohnern die „Übrigen“ | |
genannt werden. Die vorher nur vereinzelte Güte individueller Menschen geht | |
sozusagen auf im großen Ganzen, das nun per definitionem gut zu allen (nur | |
nicht zu den „Burshuis“) sein soll. Analog dazu verschwimmt das | |
Einzelschicksal Saschas erzählerisch in der Schilderung des Lebens der | |
Gemeinschaft und ihrer zahlreichen Mitglieder. | |
Bevor er von Tschewengur erfährt, wird der erwachsene Sascha, inzwischen | |
Ingenieur und Parteimitglied, von irgendeinem Komitee entsandt, sich die | |
Region anzusehen – wahrscheinlich, um den technischen Fortschritt beim | |
Aufbau des Sozialismus zu überprüfen; der Auftrag wird recht unklar | |
geschildert. Auf dieser Reise gewinnt er einen guten Kameraden: den | |
Genossen Kopjonkin, der auf einem sehr großen Pferd namens „Proletarische | |
Kraft“ durch die Gegend reitet und so sehr für Rosa Luxemburg schwärmt, | |
dass er sich keiner lebenden Frau nähern kann. | |
Kopjonkin wird es auch sein, der als Erster von beiden nach Tschewengur | |
gelangt, während Sascha mit unbekanntem Ziel durch die Gegend irrt, nachdem | |
er das Haus der jungen Lehrerin Sonja verlassen hat – jener Frau, die ihm | |
eigentlich bestimmt ist, weshalb es auch merkwürdig ist, dass er sie sofort | |
wieder verlässt, nachdem er sie durch reinen Zufall wiedergefunden hat. | |
Aber das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen ist ohnehin ein recht | |
Seltsames in diesem Roman. | |
Tschewengur selbst ist eine fast rein männlich besiedelte Stadt, nachdem | |
seine anfänglichen elf kommunistischen Bewohner alle „Burshuis“, die | |
bürgerlichen Elemente, getötet und ihren Besitz in gemeinschaftliches | |
Eigentum überführt haben. Nur eine Frau namens Klawdija lebt in | |
Tschewengur, die aber von Prokofi – der auch sonst einen Hang zum | |
Privateigentum hat – für sich selbst beansprucht wird. Oft wird davon | |
gesprochen, Weiber herbeizuschaffen – aber möglichst solche ohne weibliche | |
Reize. Als am Ende wirklich ein größerer Posten verhärmter weiblicher | |
Gestalten eintrifft, werden sie nach kurzer Diskussion als „Mütter“ | |
verteilt. Denn alle Männer seien ja Waisen und bräuchten also weniger eine | |
Gefährtin als eine Mutter. (Umgekehrt gilt aber auch: „Da begriff Dwanow, | |
dass auch die Frauen Waisen waren.“) | |
## Mutter, Libido und Tod | |
Die wohl eigenartigste Szene, zugleich die einzige Sexszene, spielt auf | |
einem Grab: dem Grab einer Mutter, deren Sohn über ihren toten Gebeinen in | |
eine lebende Frau eindringt. Es ist nicht wenig verstörend, wie besessen | |
das Mütterliche in diesem Roman immer wieder thematisiert wird: in einer | |
Mischung aus Todessehnsucht und unterdrückter (oder eben genau einmal nicht | |
unterdrückter) sexueller Begierde, die kaum verklausuliert immer wieder | |
auftaucht. Frau, Mutter, Libido und Tod bilden ein unauflösbares | |
Begriffsfeld. (Im Russischen ist der Begriff „Mutter“ im Übrigen eng mit | |
dem Bild der „Heimat“ verbunden: in ikonischer Weise sinnfällig gemacht und | |
berühmt geworden mit dem Kriegsplakat aus dem Zweiten Weltkrieg, auf dem | |
die „Mutter Heimat“ ihre Kinder zum Kampf aufruft.) Als ein alter Mann | |
stirbt, heißt es: „Der Altmeister erinnerte sich, wo er diese stille heiße | |
Dunkelheit gesehen hatte. Es war die Enge im Innern seiner Mutter, und er | |
wollte sich wieder zwischen ihre auseinandergerückten Knochen zwängen, | |
schaffte es aber nicht wegen seines zu großen alten Wuchses.“ | |
In letzter Konsequenz gehört auch der Kommunismus mit in diese | |
Assoziationswolke, denn auch Rosa Luxemburg ist eine tote Frau | |
beziehungsweise Mutter in einem Grab, das Kopjonkin sich in seiner | |
Besessenheit immer wieder vorstellen muss („Kopjonkin liebt die Mutter und | |
Rosa gleichermaßen, weil die Mutter und Rosa ein und dasselbe erste Wesen | |
für ihn sind“). Und das Eintreffen des Kommunismus ist nicht mehr und nicht | |
weniger als das Ende der Geschichte, das die Bewohner Tschewengurs | |
herbeisehnen. Es ist eine geradezu klassische Erlösungsfantasie. | |
Kommunismus oder Tod: eines von beidem wird imstande sein, den Menschen von | |
seinem Leiden am Dasein zu erlösen. Und es wird sein wie die Rückkehr in | |
den Leib der Mutter. | |
Die erzählerische Ausgestaltung dieser quasilibidinösen kommunistischen | |
Todesfantasie kommt in „Tschewengur“ als poetisch-absurde Allegorie daher. | |
Die Einwohner versetzen die Gärten und Häuser der Burshuis gemeinschaftlich | |
nach Belieben hierhin und dorthin, um alte Strukturen zu zerstören – was | |
auch bedeutet, dass nun das eine oder andere Haus mitten auf einer Straße | |
steht. Ansonsten wird nicht gearbeitet, „denn in Tschewengur arbeitete | |
statt aller und für jeden die einzigartige Sonne, die in Tschewengur zum | |
Weltproletarier erklärt worden war“. Man nährt sich von jenem, was der | |
Steppenboden freiwillig mithilfe der Gemüsesaaten des Vorjahres | |
hervorbringt. | |
Wenn irgendwann der Winter kommt, so wird, sagt einer, die Schneedecke alle | |
Häuser warm halten. Es ist ein selbstdefinierter und aus einer großen | |
Sehnsucht geborener „Kommunismus“, der nur einen Sommer lang funktionieren | |
kann, und außer dem Autor selbst hätten vermutlich alle, oder auf jeden | |
Fall die meisten seiner Zeitgenossen seine Darstellung als Satire | |
begriffen. | |
Die poetische Eindringlichkeit, mit der Platonow seine surrealistische | |
Vision entwickelt, ist allerdings Beleg einer großen Ernsthaftigkeit, einer | |
tiefen, echten Sehnsucht, die völlig konträr zur Aura des Absurden steht, | |
von der viele Geschehnisse und die meisten Dialoge dieses Romans | |
gekennzeichnet sind. | |
Die Komik, die man oft darin zu lesen glaubt, ist möglicherweise gar nicht | |
als solche intendiert, sondern Ausdruck dieser grundsätzlichen | |
Doppelgesichtigkeit. Ob man den Roman als Utopie oder als Dystopie liest, | |
ist somit wohl auch abhängig von der jeweiligen persönlichen Disposition. | |
Sicher ist allerdings auch eines: Wenn „man“ eine Frau ist, stellt sich die | |
Utopie/Dystopie-Frage gar nicht wirklich. Denn das mythische Tschewengur | |
ist ein verrückter Ort für traurige Männer. | |
15 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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