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# taz.de -- Russischer Roman wiederentdeckt: Verboten und verbannt
> Um Russland zu verstehen, muss man seine Klassiker lesen. Michail
> Ossorgins Roman „Eine Straße in Moskau“ erzählt von Krieg und Revolutio…
Bild: Ein Wandbild von Lenin, der Ossorgin aus der Sowjetunion verbannte, in de…
„In einer fremden Stadt entlieh ich den Titel meines ersten großen Romans
bei einer der bemerkenswertesten Straßen meiner Heimatstadt“, schrieb
Michail Ossorgin 1928. Da war sein Roman „Eine Straße in Moskau“ in einem
Emigrantenverlag im Pariser Exil erschienen. Ossorgin, der mit bürgerlichem
Namen Michail Andrejewitsch Iljin hieß, war schon 1922 auf den persönlichen
Befehl Lenins mit mehr als 200 anderen Intellektuellen aus der Sowjetunion
verbannt worden.
Mit diesem Roman wurde er sofort berühmt – noch im Erscheinungsjahr ist er
in zwei russischen Auflagen herausgebracht worden, wurde ins Deutsche,
Französische und Englische übersetzt.
Nun ist „Eine Straße in Moskau“ wieder aufgetaucht. Der Berliner Verlag Die
Andere Bibliothek, bekannt für seine limitierten und künstlerischen
Ausgaben, hat ihn wiederentdeckt und in einer neuen Übersetzung
herausgegeben. Mit großem Erfolg: Schnell war die erste Auflage von 4.444
Stück vergriffen – ein aufwendig gestaltetes Hardcover mit einem
perforiertem Stadtplan Moskaus im Einband und Straßenskizzen am Beginn
jedes Kapitels. Eine zweite Auflage, simpler und vor allem günstiger,
folgte.
## Die Straße von Doktor Schiwago
Ossorgin ist eine Entdeckung, mit der wohl niemand gerechnet hat. Nicht nur
die Geschichte des Autors, der als Mitglied der Partei der
Sozialrevolutionäre sein halbes Leben im Exil verbrachte, ist
beeindruckend, sondern auch die monumentale, obgleich leichtfüßige
Romangeschichte selbst: Im Mittelpunkt steht die im russischen Original
titelgebende Straße „Siwzew Wrazhek“, eine Gasse im Moskauer Stadtkern nahe
der Fußgängerzone Arbat. Im 19. Jahrhundert war sie ein Zentrum der großen
Literatur – hier lebten Lew Tolstoi und Marina Zwetajewa, Pasternaks
„Doktor Schiwago“ spielt teilweise dort.
Sie ist der Mittelpunkt von Ossorgins Miniaturuniversum. Ganz behutsam
beginnt das Buch im Frühling 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, und
endet im Frühlingserwachen von 1920, als sich Hunger, Chaos und
Verfolgungsterror nach Krieg und Revolution langsam lichten.
Dazwischen liegen 500 Seiten, auf denen der Autor in 86 Szenen um die
Bewohnerinnen und Bewohner der Siwzew Wraschek kreist und die
weltbewegenden Geschehnisse in der Sowjetunion vor allem auf den Alltag in
einem der gerade 40 Häuser der kleinen Straße herunterbricht: „In der
Unendlichkeit des Weltalls, im Sonnensystem, auf der Erde, in Russland, in
Moskau, in einem Eckhaus der Straße Siwzew Wraschek saß in seinem
Arbeitszimmer im Lehnstuhl der Ornithologe Iwan Alexandrowitsch.“
## Hausmusik im Zarenreich
Der rote Faden des Buches ist der bürgerliche Mikrokosmos des alternden
Professors Alexandrowitsch, vergöttert von seiner Enkelin Tanjuscha – der
eigentlichen Romanheldin. In den letzten Tagen des Zarenreichs haben sie
nichts anderes zu tun, als sich mit Hausmusik und rhetorischen Debatten an
ihrer einmal heil gewesenen Welt festzuklammern.
In den Kapiteln beschreibt Ossorgin deren Welt so plastisch, dass sie sich
beim Lesen wie ein Film entfaltet: die kleine Welt der Enkelin Tanjuscha,
die durch Krieg und Elend immer größer wird; der Alltag des „unangenehm
altklugen“ Studenten Ehrenberg, der voller Freude die Uniform des
Zarenreichs überstreift und als menschlicher Stumpf endet; die Inhaftierung
des sarkastischen Sozialrevolutionärs durch die Bolschewiki; die Sorge des
Hausknechts um seine Stiefel.
Die Beschreibungen aus der Welt der Menschen wechseln sich ab mit Szenen
aus der Tierwelt – eine Ameisenarmee tut ihren Dienst an den Blattläusen,
ein hungernder Wolf kratzt verzweifelt im Hausmüll.
Schon nach einigen Kapiteln wird es ungemütlich im Professorenhaus, die
Realität schwappt ins Bürgerparadies. „Onkel Borja, der Chopin von Skrjabin
nicht unterscheiden konnte, Onkel Borja, die geduldete Null, der
gewöhnliche Maschinenbauingenieur, der nicht nach den Sternen griff. Nun
aber wurde er gebraucht“, schreibt Ossorgin und deutet an, wie sich die
Welt im Oktober 1917 für viele von den Füßen auf den Kopf stellte.
Bald schon muss der Professor die Bücher aus seiner Privatbibliothek
meterweise versetzen. Und auch die Enkelin verkauft – heimlich – ihre
wenigen Habseligkeiten, um dem geliebten Opa Zucker statt Sacharin zum Tee
reichen zu können.
## Die Ratten kommen
Noch geht alles seinen gewohnten Gang: Gäste kommen zum Musizieren und
Debattieren, obschon immer hungriger und abgehangener. Es folgen schnelle
Geschichten von Razzien, Epidemien, den traumatisiert zurückkehrenden
Soldaten und Hunger. „Im Jahr neunzehnhundertneunzehn wurde Moskau von den
Ratten erobert“, schreibt Ossorgin knapp. Trotz des ironischen Untertons
wird das Buch immer bitterer. Überhaupt hat der Roman einen eigenartig
poetischen, fast melancholischen Klang.
Man kann sich kaum vorstellen, wie Ossorgin dies im Pariser Exil vollbracht
hat, wo er bis zu seinem Tod 1942 als Staatenloser lebte. Bereits 1905 war
der Jurist aus einer Adelsfamilie in Perm festgenommen worden – er hatte in
der Zeit der ersten Proteste gegen das Zarenreich seine Kanzlei für
konspirative Treffen zur Verfügung gestellt. Ossorgin war dann nach Italien
geflohen, von wo aus er mehrere Jahre als Journalist arbeitete.
## Später Erstling
Er kehrte erst zur Oktoberrevolution zurück und wurde Vorsitzender des
russischen Journalistenverbandes. Aber bereits 1922 wurde er wieder
verhaftet, wegen seines Engagements im Allrussischen Komitee für die Hilfe
der Hungernden (Pomgol), dem auch Maxim Gorki angehörte. Nach dessen
Auflösung 1921 wurde Ossorgin 1922 mit 220 anderen Journalisten und
Intellektuellen auf Befehl Lenins zwangsausgesiedelt und per Seeweg aus der
Sowjetunion geschafft.
Den feinen Schreibstil, subkutan und immer ein bisschen komisch,
entwickelte Ossorgin erst dort. Ganz sicher liegt das auch an der
Neuübersetzung von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak.
Ossorgin war bereits 50 Jahre alt, als „Eine Straße in Moskau“, sein erster
Roman, ihn 1928 als Schriftsteller international berühmt machte. Es war
wohl die richtige Zeit für seine Literatur. Nicht ideologisch verbrämt,
sondern in einer ganz eigenen, einzigartigen Sprache schrieb er über Wirren
des Ersten Weltkriegs und die nachfolgenden Umstürze in Russland, über den
Terror. Das bewegte die Menschen auch hinter den Grenzen der Sowjetunion.
## Vor Liebe sterben
Noch heute ist der Roman mehr als lesenswert. Die Szenen, die das große
dramatische Weltgeschehen illustrieren, wechseln mit zärtlichen
Beschreibungen der kleinen, aber existenziellen menschlichen Sorgen. Etwa
wenn Wassja vor dem Spiegel den schwachen Bart zwirbelt, um seiner
Angebeteten zu imponieren. Ossorgin beschreibt seine Not anrührend: „Ob er
auf die Knie fallen sollte und hinter ihr die Treppe hinaufrutschen oder
etwas in dieser Richtung, um irgendwie seine Gefühle auszudrücken? Sie war
so streng – die weiße Bluse, das Krägelchen –, und er starb vor Liebe.“
Eine Schlüsselszene des Romans ist die albtraumhafte Fantasie des Offiziers
Stolnikow, dem bei einem Bombenangriff Arme und Beine abgetrennt wurden:
Zum Stumpf geworden, träumt er von einem Aufstand der Krüppel gemeinsam mit
den Unversehrten, denen unter der Losung der Gleichheit ebenfalls die
Gliedmaßen abgehackt worden sind. Trotz dieser deutlichen Kritik an der
Pervertierung der Oktoberrevolution, hinter der auch Ossorgin stand, ist
der Roman aber nicht eigentlich politisch. Vielmehr handelt er von der
Unzerstörbarkeit des Menschen in Zeiten von Desillusionierung, Terror und
Krieg – ganz ohne dabei in den Kitsch zu kippen.
10 Mar 2016
## AUTOREN
Sonja Vogel
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