Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Interview mit Autor Vladimir Sorokin: „Kälte ist gut für den De…
> Vladimir Sorokin, einer der bedeutendsten Schriftsteller Russlands, über
> das unterschiedliche Lebensgefühl in Berlin und Moskau, Wodka und die
> Liebe zum Schnee.
Bild: Vladimir Sorokin liebt den russischen Winter – aber auch Berlin.
Vladimir Sorokin öffnet die Tür seiner Charlottenburger Altbauwohnung, er
trägt ein graues Hemd, eine rote Hose und Hausschlappen. Die Schuhe
brauchen wir nicht ausziehen, sagt er: „Wir sind hier in Deutschland, nicht
in Japan.“ Die Wohnung ist geräumig und hell, das Licht fällt vom einen
Zimmers ins nächste. Wegen dieses „Durchlichts“, wie Sorokin es nennt, hat
er sich damals für die Wohnung entschieden. Im ersten Zimmer auf der linken
Seite stehen Staffelei und Pinsel. Das erste Gemälde, das Sorokin nach
25-jähriger Pause gemalt hat, hängt im Eingangsbereich und zeigt ein
winziges Mammut und eine große Rakete. Die Rakete sei die Literatur,
erklärt Sorokin, und seine Freunde sagen, das Mammut sei er. Wir nehmen auf
dem Sofa im Malzimmer Platz.
taz: Herr Sorokin, um ehrlich zu sein, hatte ich auf einen Wodka zur
Begrüßung spekuliert.
Vladimir Sorokin: Das tut mir leid. Ich trinke zwar Wodka, aber nicht jeden
Tag. Aber Sie haben Recht, Wodka ist für Russen tatsächlich ein sehr
wichtiges Getränk.
Inwiefern?
Der Wodka hilft ihnen, in diesem rauen Land zu überleben. Der harte Winter,
die großen Weiten, die Unordnung des russischen Lebens – das sind alles
Gründe für den hohen Alkoholkonsum in Russland.
Also ist es kein Vorurteil, dass Russen viel trinken?
Nein, das ist die Wahrheit. Ich habe vor langer Zeit einmal meinem
Großvater von einem Artikel erzählt, den ich in einem englischen
enzyklopädischen Wörterbuch entdeckt habe. Dort stand, dass bereits 300
Gramm Alkohol eine gesundheitsgefährdende Dosis darstellen. Mein Großvater
erwiderte, bei 300 Gramm fange er gerade erst an zu trinken. Wodka ist für
die Russen wie Aspirin für die Deutschen.
Ein Betäubungsmittel?
Ein Panzer. Ein Panzer, der es den Menschen ermöglicht, den harten Alltag,
aber auch den Staat nicht zu nah an sich heranzulassen. Neben dem Wodka ist
in dieser Hinsicht auch Mat …
… also die russische Vulgärsprache …
… sehr wichtig. Es ist die Sprache des Volkes, auf die der Staat keinen
Einfluss hat. Wodka und Mat – das ist das Doping des russischen Volkes.
Weshalb wollen die Russen dem Staat entfliehen?
Der staatliche Raum in Russland ist eine fremde, feindliche Sphäre.
Zwischen ihr und dem privaten Raum existiert eine klare Grenze, eine Art
Checkpoint Charlie. In dem Moment, in dem man seine Wohnung verlässt,
befindet man sich im staatlichen Raum. Dort muss man ständig auf der Hut
sein und um alles kämpfen.
Und in Deutschland?
In Deutschland ist es anders, hier spürt man keine Grenze. Ich habe vor
drei Jahren eine Wohnung in Charlottenburg gekauft und verbringe dort
mittlerweile mehr Zeit als in meinem Haus in Russland. In Berlin trete ich
auf die Straße hinaus und habe nicht das Gefühl, mich vor irgendetwas
fürchten zu müssen. Der große Unterschied ist: In Russland dient der Mensch
dem Staat, in Deutschland dient der Staat dem Menschen.
Wieso haben Sie sich bei der Wahl Ihres Zweitwohnsitzes ausgerechnet für
Berlin entschieden?
Ich war das erste Mal 1988 in Berlin, es war meine erste Reise in den
Westen. Damals fand in Charlottenburg eine Ausstellung russischer und
deutscher Künstler statt. Mir hat Berlin sofort gefallen. Die Stadt
strahlte Ruhe aus und hat viel angeboten, ohne etwas zurückzufordern. Es
gab damals noch viele freie Flächen, ein bisschen so wie im Moskau der
1960er und 70er Jahre. Auch die Berliner haben mir gefallen, es zogen viele
Künstler aus ganz Deutschland hierher, die kulturelle Szene war sehr
interessant. Damals habe ich mich mit Berlin angefreundet.
Was schätzen Sie an Berlin?
Berlin hat einen besonderen Raum, ich spüre diesen Raum. Die Stadt ist sehr
groß, und trotzdem wohnen nicht allzu viele Leute hier. Es ist nicht so eng
wie in Moskau.
Ihre Wohnung liegt in Charlottenburg – einem Bezirk, der dafür bekannt ist,
dass dort viele Russen wohnen. Haben Sie viele russische Freunde in Berlin?
Zurzeit findet eine starke Immigrationsbewegung aus Russland statt, vor
allem Vertreter der Intelligenzija zieht es von Moskau nach Berlin. Ich
merke das daran, dass ich in Berlin immer mehr Freunde habe und in Moskau
immer weniger.
Was zieht Ihre russischen Landsleute hierher?
In Russland herrscht zurzeit eine schwierige politische Atmosphäre, es
bahnt sich eine schwere ökonomische Krise an. Das spüren nicht nur die
Künstler. Die Menschen beginnen zu verstehen, dass es nicht mehr besser
werden wird. Viele haben Familie und wollen, dass ihre Kinder in einem
sicheren Umfeld aufwachsen.
Fehlt Ihnen nichts, wenn Sie in Berlin sind?
Doch, der russische Winter. Deshalb fliege ich demnächst für einen Monat
nach Moskau. Ich brauche Schnee und Frost. Wenn es hier im Dezember regnet
und nicht schneit, werde ich depressiv. Hitze hasse ich. Minus 40 Grad sind
immer besser als plus 40 Grad. Im Winter kann ich am besten schreiben,
Kälte ist gut für den Denkprozess.
Was mögen Sie so sehr am Schnee?
Der Schnee verdeckt die Scham der Erde. Er macht alles schön und gut.
In Ihrem Roman „Der Schneesturm“ verirren sich zwei Reisende im Schnee,
einer der beiden erfriert am Ende. Die Kälte ist dort tödlich.
Es ist trotz allem eine Winterreise. Sie ist traurig, aber auch schön. Auch
der Tod kann schön sein. Der Winter ist wie eine Schneekönigin:
wunderschön, aber auch gefährlich.
Bekommen Sie in einer Großstadt wie Moskau überhaupt viel vom richtigen
russischen Winter mit?
Mein Haus befindet sich nicht direkt in Moskau, sondern in einem Vorort in
der Nähe des Flughafens Wnukowo mitten im Wald. Ich versuche, mich so
wenig wie möglich in Moskau aufzuhalten. Die Stadt hat sich zum
Schlechteren hin verändert.
Inwiefern?
Es gibt nur noch wenig menschlichen Raum dort. In den 70er Jahren liebten
wir es, durch die engen alten Moskauer Straßen zu spazieren. Jetzt ist das
nicht mehr möglich, weil überall Autos stehen. Und diese Autos sind
dreckig. Das ist ein sehr deprimierender Anblick. Moskau ist keine Stadt
mehr, Moskau ist ein Ort, an dem die Macht lebt.
Das müssen Sie aber genauer erklären.
Der Kreml und der Rote Platz strahlen Bedrohung aus. Man kann förmlich
spüren, dass das gefährliche Orte sind. Alles, was in Moskau passiert,
passiert zugunsten der Macht und nicht zugunsten des einfachen Menschen.
Wenn da zum Beispiel irgendwo schöne Bäume stehen, werden sie abgeholzt.
Alte Gebäude werden niedergerissen. Die Architektur heutzutage in Moskau
ist schrecklich, anders kann man es nicht sagen.
In Ihrem letzten Werk, „Telluria“, beschreiben Sie Russland in einem
Kapitel als Leiche, die in viele Einzelstaaten zerbrochen ist. Droht dem
Land tatsächlich der Zerfall?
Er hat schon begonnen. In Russland existiert eine Pyramide der Macht, an
deren Spitze ein einziger Mensch steht. Dieses Staatsgebilde ist nicht in
der Lage, normal zu funktionieren. Nur Gewalt könnte es retten. Doch groß
angelegter Terror wie zu Zeiten Stalins ist heute nicht möglich. Deshalb
zerfällt Russland.
Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?
Schlecht. Die Leute verstehen, dass es in diesem Land keine normale Zukunft
geben wird. Sie verstehen, dass auch Putin keine Ahnung hat. Das ist eine
gefährliche Situation.
Deutsche Literaturkritiker interpretieren Ihre Werke oft als Kritik an
Putin und der Politik des Kreml. Fühlen Sie sich damit richtig verstanden?
Ich sage immer: Meine Aufgabe ist es, den Text zu schreiben. Ihn lesen und
interpretieren müssen andere. Ich bin sehr tolerant gegenüber jeder
Interpretation. Wenn ein Mensch zum Beispiel in „Der Schneesturm“ eine
Satire sieht, nun, bitte schön. Aber in Wirklichkeit ist es eben nicht so.
Sondern?
In Wirklichkeit ist es der Versuch, eine Metapher für das provinzielle
Leben zu finden. Dieses Leben hat sich seit tausend Jahren kaum verändert.
Ob gerade Nikolaus der Zweite, Stalin oder Putin an der Spitze des Staates
standen, war für das Leben auf dem Land nicht wichtig. Man könnte sogar
sagen: scheißegal.
Unterscheiden sich die Rezensionen deutscher und russischer Kritiker
voneinander?
Dumme Rezensionen werden in Russland und in Deutschland geschrieben. Das
liegt in der Natur der Sache. Aber natürlich unterscheiden sie sich.
Deutsche Rezensenten wollen immer alles ganz genau verstehen. Warum ich was
wie geschrieben habe, was ich damit sagen wollte. Die Russen sind in der
Regel eher… (überlegt) sophisticated.
Was meinen Sie damit?
Sie verstehen Anspielungen besser. Die Russen haben in der Sowjetunion
gelernt, mit doppelter Zunge zu sprechen und zu denken. Diese Fähigkeit
haben sie sich bis heute bewahrt. Deutsche Kritiker gehen die Sache
seriöser an. Nur ist Literatur eben keine Wissenschaft und man kann nicht
alles erklären. Vladimir Nabokow hat einmal erklärt, warum es falsch ist,
einen Autor zu fragen, was er mit seinem Werk sagen will. Denn der Autor
wird auf sein Werk zeigen und erwidern: „Das hier will ich sagen.“
Gibt es eines Ihrer Bücher, das Sie kein zweites Mal schreiben würden?
Ich würde keines meiner Bücher ein zweites Mal schreiben. Aber ich schäme
mich auch für keines. Glücklicherweise habe ich nie ein Buch geschrieben,
nur um Geld zu verdienen oder um irgendein politisches Ziel zu erreichen.
Ich habe mich immer nur der Literatur gewidmet.
Jeder Autor ist immer auch Leser. Welche Schriftsteller haben Sie
besonders inspiriert?
Unter den russischen Schriftstellern fühle ich mich Gogol, Tolstoi, Charms
und Schalamow am nächsten. Und Bulgakow.
Und was macht für Sie ein gutes Buch aus?
Dass ich mich beim Lesen selbst vergesse. Ein Buch ist gut, wenn man es in
der Metro liest und über die Lektüre seine Station verpasst.
Ist Ihnen das schon mal passiert?
Ja. Das war 1980, ich habe ein Buch von George Orwell gelesen. Als ich
hochgeschaut habe, waren wir an der letzten Station angekommen. Neben mir
standen irgendwelche Arbeiter und ich befand mich mitten in der Welt
Orwells. (lacht)
Schreiben Sie zurzeit an einem neuen Buch?
Nein, seit „Telluria“ befinde ich mich in einer Literaturpause. Es ist
wichtig für einen Schriftsteller, auch mal zu schweigen. Ich bin in Berlin
nach 25 Jahren zur Malerei zurückgekehrt. Ich kann nicht erklären, warum,
aber Berlin hat mich inspiriert. Im nächsten Jahr möchte ich einige Bilder
ausstellen. Gerade bin ich auf der Suche nach einer geeigneten Galerie hier
in Berlin.
Freuen Sie sich auf das Jahr 2016?
Ich hoffe, dass das neue Jahr besser wird als das alte. 2015 war ein
schwieriges Jahr. Mein Vater ist gestorben. Er war 87 Jahre alt und hat in
seinem Leben nie getrunken. Außerdem die vielen Flüchtlinge, die Kriege,
Mister Putin … schrecklich!
20 Dec 2015
## AUTOREN
Hannah Wagner
## TAGS
Wladimir Putin
Schriftsteller
Russland Heute
Literatur
Russische Literatur
Wladimir Putin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Dystopie-Roman „Doktor Garin“: Russland ist zerfallen
In Vladimir Sorokins „Doktor Garin“ ist der Krieg zum Alltag in Europa
geworden. Der Roman ist ein drastisches Sinnbild für das heutige Russland.
Neue Erzählungen von Wladimir Sorokin: Die große russische Leere
Wer Russland verstehen will, muss Wladimir Sorokin lesen. In seinen
Erzählungen markiert der Autor die politischen Tendenzen mit bösem Humor.
Russischer Roman wiederentdeckt: Verboten und verbannt
Um Russland zu verstehen, muss man seine Klassiker lesen. Michail Ossorgins
Roman „Eine Straße in Moskau“ erzählt von Krieg und Revolution.
Wladimir Putins Jahrespressekonferenz: Weiterhin alles im Griff
Guter Laune und ein wenig bissig gab sich Putin in seiner dreistündigen
Rede. Er sprach über Syrien, die Türkei und die russische Wirtschaft.
20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion: Die russische Krankheit
Staat und Gesellschaft führen ein Eigenleben und der ideologische Überbau
verherrlicht ein überkommenes Weltbild. Russland steckt die Sowjetunion
tief im Mark.
Neuer Sorokin-Roman: Goldlocke auf Glatze
Dir Zukunft ist düster und sieht der Gegenwart verdammt ähnlich. In der
Vladimir Sorokins neuem Roman "Der Tag des Opritschniks".
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.