# taz.de -- Neue Erzählungen von Wladimir Sorokin: Die große russische Leere | |
> Wer Russland verstehen will, muss Wladimir Sorokin lesen. In seinen | |
> Erzählungen markiert der Autor die politischen Tendenzen mit bösem Humor. | |
Bild: Hinter der Idylle lauern die Groteske und die Verharmlosung der Vergangen… | |
Die Staatsmacht ist in Aufruhr: Über Nacht hat sich das Uran in den | |
Atomsprengköpfen in Zucker verwandelt. Verzweifelt wenden sich hohe | |
Vertreter von Politik, Militär und Kirche mit letzter Hoffnung an einen | |
alten Mönch, der direkten Kontakt zu Gott haben soll. Es steht nicht wenig | |
auf dem Spiel, denn das unerwartete Ereignis stellt die militärische Stärke | |
Russlands infrage. Das Wissen, immer für alle Fälle [1][ein paar | |
Atomraketen parat zu haben,] hält das Land im Innern zusammen und | |
garantiert seinen Platz in der Welt. | |
Dieses groteske Szenario hat Wladimir Sorokin in seiner Erzählung „Lila | |
Schwäne“ entworfen, in der er den Nationalismus und Militarismus in Putins | |
Russland gekonnt entlarvt. Der russische Schriftsteller sorgt schon seit | |
seinen ersten Veröffentlichungen Ende der siebziger Jahre für Aufsehen. | |
Indem er typische Erzählweisen übersteigert, ins Groteske zieht oder | |
buchstäblich zur Auflösung der Sprache treibt, dekonstruiert er den | |
sozialistischen Realismus, den klassischen Roman des 19. Jahrhunderts und | |
populäre Genres wie Krimi und Thriller. Seit Beginn der 2000er haben | |
Sorokins Werke mehr und mehr dystopische Züge angenommen. [2][Reale | |
Tendenzen wie Traditionalismus und Autoritarismus] steigert er zu | |
Zukunftsbildern, in denen Hochtechnologie und mittelalterliche | |
Foltermethoden eine gruselige Symbiose eingehen. | |
Im Erzählungsband „Die rote Pyramide“, der in diesen Tagen erscheint, sind | |
neun Kurzgeschichten Sorokins aus den letzten zwei Jahrzehnten versammelt. | |
Teilweise erinnern sie an seine frühen Werke, in denen er erst den | |
typischen Stil und die Handlung konventioneller Erzählungen gekonnt | |
imitiert und es dann zu einem radikalen Bruch kommen lässt – inhaltlich wie | |
sprachlich. | |
In mehreren der Erzählungen, die zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen, hat | |
Sorokin es auf ein romantisiertes Russlandbild abgesehen: Da stehen | |
heimelige Datschen in Birkenwäldchen und die Butter duftet auf den Blinis, | |
bis sich – mal sehr plötzlich, mal eher subtil – ein Grauen offenbart. | |
## Immer herausfordernd | |
Sorokin fährt eine ganze Bandbreite an Formen auf, zu denen ein bitterböser | |
Humor und Situationskomik genauso gehören wie Schock und Provokation. Die | |
Erzählungen sind nicht alle im gleichen Maße gelungen, aber immer | |
überraschend und herausfordernd. Die Übersetzer:innen Andreas Tretner | |
und Dorothea Trottenberg, beide schon erfahren mit Sorokins Texten, haben | |
seine experimentelle und anspielungsreiche Sprache elegant ins Deutsche | |
übertragen. | |
So absurd und fantastisch die geschilderten Situationen auch sein mögen – | |
an ihnen lässt Sorokin nur aktuelle politische Tendenzen in Russland | |
überdeutlich hervortreten. Die Hauptfiguren in „Lila Schwäne“ | |
repräsentieren vor allem das mit Sowjetnostalgie getränkte Großmachtdenken | |
und die konservative Religiosität, die zusammen die Grundlage für den | |
aktuellen russischen Nationalismus bilden und das ideologische Vakuum | |
füllen, das nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden ist. | |
Auch ein staatstreuer Künstler ist unter denjenigen, die Russlands Stärke | |
retten wollen. Sein Lösungsvorschlag ist Propaganda, die die Gegner einfach | |
permanent niederredet, bis alle verstanden haben, „in welch großartigem | |
Land wir leben und wie viel wir gemeinsam zu tun imstande sind, wie vieles | |
wir noch vor uns haben und was für einen vortrefflichen Präsidenten, was | |
für hervorragende Militärs, Generäle, Starzen und Heilige“. | |
## Echt sind nur die Sprengköpfe | |
Doch die meisten Vertreter der Macht sind sich einig, dass das dieses Mal | |
nicht reichen wird. Der Abgesandte, der schließlich beim alten Mönch | |
vorspricht und um Hilfe von ganz oben bittet, fasst das Problem treffend | |
zusammen. In Russland sei alles „als ob“: „Freiheit – als ob, Gesetze �… | |
ob, Ordnung – als ob“. Mit einer Ausnahme: „Echt ist bei uns nur dieser | |
Sprengkopf. Nur dieses Uran, das Lithiumdeuterit. Das funktioniert. Wenn | |
auch das noch zum Als-ob wird, dann ist gar nichts mehr da. Nur noch eine | |
große Leere.“ | |
Trotz solch deutlicher Kritik am russischen Staat ist Sorokin ein in | |
Russland viel gelesener Autor, der mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet | |
wurde und dessen Bücher in Uni-Seminaren behandelt werden. Es gibt sogar | |
Nationalisten, die Sorokins dystopische Entwürfe nicht als Mahnung, sondern | |
als vielversprechende Prophezeiung lesen, zeigen sie doch Russland als | |
isolierten Staat mit traditionalistischer, gottesfürchtiger Lebensweise und | |
monarchistischer Gewaltherrschaft. | |
Die Literaturwissenschaftlerin Ekateria Vassilieva hat analysiert, dass die | |
Rechte in Russland, zum Beispiel der neofaschistische Philosoph Alexander | |
Dugin, mit Bildern operiert, „die den sorokinschen verdächtig nahekommen, | |
wobei die Kritik und ihr Gegenstand fast ununterscheidbar werden“. | |
## Verharmlosung der Vergangenheit | |
Doch Sorokin erlebt auch starke Anfeindungen. Putin-nahe Jugendgruppen | |
gingen in mehreren Aktionen gegen den Autor bis zur Verbrennung seiner | |
Bücher. Sie haben Rückendeckung. Schließlich wird in Russland schon seit | |
einigen Jahren um die sowjetische Vergangenheit gerungen und die Regierung | |
versucht ihre Deutung mit zunehmender Vehemenz durchzusetzen, wie zuletzt | |
die Zerschlagung der Menschenrechtsorganisation Memorial zeigte, die sich | |
für die Aufarbeitung des stalinistischen Terrors einsetzt. | |
Stalin erfährt derzeit eine Rehabilitierung, und auch, dass das Leben in | |
den Gulags gar nicht so schlimm gewesen sei, ließen offizielle Stellen | |
bereits vermelden. | |
Sorokin wendet sich gegen solche Verharmlosungen, indem er das, was nicht | |
Teil des offiziellen Geschichtsbilds ist, in seinen Erzählungen gewaltvoll | |
hervorbrechen lässt und ins Exzessive steigert: Machtmissbrauch, Gewalt und | |
Sex. Mehrere Erzählungen des aktuellen Bandes spielen in der Sowjetunion. | |
In der titelgebenden Geschichte stellt Sorokin die sowjetische Ideologie | |
als eine Art magische Manipulation dar, als „rotes Rauschen“, das von einer | |
unsichtbaren Pyramide auf dem Roten Platz ausgestrahlt wird und den | |
Bürger:innen die Menschlichkeit austreibt. | |
## Schämst du dich nicht? | |
In der Geschichte „Der Fingernagel“ kommt zum Beispiel eine ordentliche | |
Portion Fäkalhumor zum Einsatz: Sorokin lässt eine beschauliche Feier mit | |
süßem Sekt und Rote-Bete-Salat in einer bizarren Gewaltorgie enden, weil | |
sich die Gäste darüber streiten, wer von ihnen das sauberste Poloch hat. | |
Ganz ohne solche humoristischen Momente kommt „Der Tag des Tschekisten“ | |
aus, eine der eindrücklichsten Erzählungen des Bandes. Sie beginnt mit dem | |
Dialog zweier Männer, die sich gegenseitig von ihren Taten im Dienst der | |
Staatssicherheit berichten. Sie haben gefoltert, Intellektuelle ins | |
Gefängnis gebracht und waren an Massenerschießungen beteiligt. Auf die | |
wiederholte Nachfrage: „Schämst du dich nicht?“, antwortet der jeweils | |
Angesprochene jedes Mal mit einem knappen „Nein“. | |
Anschließend schildert einer der Männer eine Szene, die er als Junge im | |
Pionierlager beobachtet hat. Der Pionierleiter vergewaltigte ein Mädchen | |
und erzählte ihm anschließend drohend und prahlend zugleich, dass | |
Angehörige des KGB einen Menschen zertreten können wie eine Ameise – oder | |
Träume erfüllen, zum Beispiel den Traum des Mädchens, Schauspielerin zu | |
werden. Sorokin zeigt so, dass in einem autoritären System die staatlich | |
befohlene Gewalt Hand in Hand geht mit der Möglichkeit des Einzelnen, sich | |
über andere zu stellen, über ihr Leben zu bestimmen und ihnen Gewalt | |
anzutun. | |
Ein verklärtes, heroisches Bild der Sowjetunion gehört zu den ideologischen | |
Versatzstücken, die die „große Leere“ füllen sollen, wie sie in der | |
Erzählung „Lila Schwäne“ beschrieben wird. Dass das nicht bruchlos geling… | |
ist auch ein Verdienst von kritischen Autor:innen wie Sorokin, die | |
idealisierte nationalistische Russlandbilder entlarven und ihnen etwas | |
entgegensetzen. Das haben die so verschiedenen Erzählungen im Band „Die | |
rote Pyramide“ gemeinsam: Sie sind eine grandios gnadenlose Zerstörung der | |
Idylle, die schon immer eine Illusion war. | |
13 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Norma Schneider | |
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