| # taz.de -- Ideologische Logik hinter Putins Krieg: Putins Pest | |
| > Der Krieg des russischen Präsidenten gegen die Ukraine ist von völkischem | |
| > Denken motiviert, das die Rechte der eigenen Nation über die anderer | |
| > erhebt. | |
| Bild: Währen Putin die Ukraine angreifen lässt, besucht er eine Produktionsst… | |
| Die Wiederkehr des 1. September 1939 mit anderen Teilnehmern. Stalins | |
| Begründung für den Einmarsch der Sowjetunion in Polen im selben Jahr. Der | |
| Angriff der Sowjets auf Finnland vom Herbst 1939. Der Überfall auf die | |
| Tschechoslowakei 1968, die Unterdrückung des Ungarn-Aufstands 1956. Jetzt, | |
| mitten im Krieg in Europa, werden die historischen Analogien bemüht. Diese | |
| Suche nach Vorbildern für das Verhalten der russischen Führung ist | |
| verständlich. Wenn wir uns schon das scheinbar irrationale [1][Verhalten | |
| Putins] nicht erklären können, so suchen wir nach Abziehbildern in der | |
| Vergangenheit, die uns vielleicht einen Hinweis darauf geben können, was | |
| sich dahinter verbergen mag und was er noch vorhaben könnte. | |
| Ja, es existieren Parallelen – aber sie stammen allesamt aus anderen | |
| Epochen. Die Militäraktionen der Roten Armee nach dem Zweiten Weltkrieg in | |
| ihrem Machtbereich waren Ergebnis einer bipolaren Welt, in der jede der | |
| beiden Großmächte in ihrem Hinterhof tun und lassen konnte, was ihr | |
| beliebte. Das hoch gerüstete Gleichgewicht des Schreckens sorgte mit | |
| knapper Not dafür, dass ein dritter Weltkrieg vermieden werden konnte. Auf | |
| die kleineren Nationen aber nahm es keine Rücksicht. Wer sich im | |
| Machtbereich des sowjetischen Blocks befand, brauchte auf Hilfe nicht zu | |
| hoffen. | |
| Noch weniger lässt sich das Verhalten Josef Stalins mit dem Wladimir Putins | |
| vergleichen. Ja, auch Stalin ging es um eine unbedingte Ausweitung seiner | |
| Macht, auch er nahm nicht die geringste Rücksicht auf die eigene | |
| Bevölkerung. Aber dahinter stand auch die Vorstellung eines anderen | |
| ideologischen Rahmens, genannt Kommunismus, dieser vorgebliche Weg zu | |
| immerwährendem Sonnenschein auf der Welt unter Führung einer Partei. Eine | |
| solche Ideologie gibt es nicht mehr – der Kapitalismus in Russland ist | |
| heute nur noch raubtierartiger und ungebremster als in der westlichen Welt. | |
| Wenn es ein durchgängiges Motiv für das Verhalten der Moskauer | |
| Kriegstreiber gibt, dann ist es: der überbordende [2][Nationalismus]. Wenn | |
| der russische Präsident die Ukrainer abfällig als „Kleinrussen“ | |
| abqualifiziert, wenn er ihnen jegliche Nationalgeschichte außerhalb der | |
| Sowjetunion aberkennt und ihnen das Recht auf Eigenstaatlichkeit abspricht, | |
| dann agiert er als völkischer Denker, der die eigene Nation über andere | |
| erhebt. Zugleich sind seine Reden schallende Absagen an jegliche | |
| Vorstellung des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen. | |
| Putins Behauptung, der Feind müsste „denazifiziert“ werden, entspricht | |
| nicht einer militärischen Überlegung, er setzt den Gegner vielmehr mit dem | |
| Bösen gleich, das es zu vernichten gelte. | |
| Diese Vorstellung gründet verkürzt gesagt auf dem Gedanken ethnisch „reiner | |
| Völker“, deren Lebensrecht über dem anderer Nationen stehe. Beispiele für | |
| dieses Denken sind mannigfaltig, und man muss dazu keineswegs nur das | |
| NS-Regime betrachten, dem angesichts seiner Vernichtungspolitik eine | |
| besondere Rolle in der Geschichte zukommt. | |
| Eine „ethnische Reinheit“ strebten Griechen nach dem Ersten Weltkrieg | |
| ebenso an wie nationalistische Türken nach dem Zweiten Weltkrieg, sie fand | |
| sich in Reden gestandener Demokraten der Weimarer Republik ebenso wie unter | |
| polnischen Patrioten in der Zwischenkriegszeit. | |
| Der Zerfall der alten bipolaren Weltordnung hat in den vergangenen 30 | |
| Jahren zu einer beispiellosen Rückbesinnung auf nationale Deutungsmuster in | |
| Osteuropa und auf dem Balkan geführt. Diese Entwicklung verwundert wenig, | |
| wenn man bedenkt, dass die vorgeblich „sozialistische“ | |
| Internationalisierung samt ihrer Bruderküsse in diesen Gesellschaften | |
| primär auf staatlichem Zwang beruhte und keineswegs dazu führte, alte | |
| Bruchlinien, Vorurteile und Ungleichgewichte zu beseitigen. Nicht in allen | |
| Fällen führte diese Renationalisierung zu einem aggressiven Verhalten | |
| gegenüber den Nachbarn. | |
| Aber der Geist, der da wieder aus der Flasche kam, manifestiert sich heute | |
| im Bestreben serbischer Nationalisten nach Eigenstaatlichkeit im | |
| multikulturellen Bosnien-Herzegowina. Er hat in Tschetschenien zu | |
| unfassbarem Leid geführt, in Moldau das Land faktisch geteilt, in Georgien | |
| Hass produziert und mit russischer Unterstützung eine Sezession ermöglicht. | |
| Und auch die Ukraine war keineswegs frei von nationalistischen Tendenzen | |
| wie der Diskriminierung der russischsprachigen Bewohner. | |
| Doch diese nationalistischen Aktionen in Ost- und Südosteuropa waren und | |
| sind stets limitiert, weil die Macht ihrer Träger Grenzen besitzt. Sie | |
| haben dennoch viele Opfer verursacht und ganze Regionen für Menschen der | |
| „falschen“ ethnischen Gruppierung unbewohnbar gemacht. Die EU konnte | |
| deshalb lange an der Hoffnung festhalten, diese Exzesse irgendwie eindämmen | |
| zu können – mit Geld, guten Worten und gefährlichen Kompromissen. | |
| Bei Russland ist das nicht möglich. Wladimir Putins völkisches Denken hat | |
| ihn zu einem Kriegsverbrecher gemacht. Seine fortgesetzten Lügen lassen | |
| jede Glaubwürdigkeit für mögliche weitere Gespräche vermissen. Die Lügen | |
| sorgen zudem dafür, dass über seine künftigen Ziele bleierne Ungewissheit | |
| besteht. Denn welche Garantie gibt es dafür, dass der Despot im Kreml nicht | |
| eines Tages auf die Idee verfällt, auch jene „Russen“ mit militärischen | |
| Mitteln zu „befreien“, die als Minderheit in Estland, Lettland oder Litauen | |
| leben, also innerhalb von Nato-Staaten? | |
| Völkischer Nationalismus mitsamt seinen Unterarten Rassismus und | |
| Antisemitismus begleiten Europa seit über hundert Jahren. Wir haben lange | |
| geglaubt, diese Pest eingehegt zu haben. Europa hat sich darin geirrt. Die | |
| größte Herausforderung wird es nicht sein, einem [3][Wladimir Putin] seine | |
| Grenzen aufzuzeigen. Sondern diese mörderische Ideologie einer angeblichen | |
| Minderwertigkeit anderer ethnischer und religiöser Gruppen, Völker und | |
| Nationen aus den Köpfen zu verbannen. | |
| 28 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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