| # taz.de -- Matthias Platzeck über Putins Russland: „So viel Irrationalität… | |
| > Stets hat Matthias Platzeck um Verständnis für russische Interessen | |
| > geworben. Nun hofft der Ex-SPD-Chef, dass Putin durch sein Umfeld | |
| > irgendwie zur Umkehr gebracht wird. | |
| Bild: 2001 erhielt Putin viel Applaus im Bundestag – doch daraus folgte nicht… | |
| taz: Herr Platzeck, Sie haben stets die russische Sicht und das Bedürfnis | |
| nach Sicherheitsgarantien [1][verteidigt]. Aber nun zeigt sich: Es ging | |
| Putin nie um Sicherheit, es ging um einen imperialen Machtanspruch. Wie | |
| fühlt es sich an, so falsch gelegen zu haben? | |
| Matthias Platzeck: Ich teile die Einschätzung nicht, dass es nie um | |
| russische Sicherheitsinteressen ging. Fakt ist aber, dass hier ein | |
| Kulturbruch stattgefunden hat, ein durch nichts und niemanden zu | |
| rechtfertigender Überfall auf ein vom russischen Präsidenten selbst so | |
| bezeichnetes Brudervolk. Und ja, ich hätte das für undenkbar gehalten – ich | |
| wache nachts auf und hoffe immer, es sei ein böser Traum. | |
| Sie haben erklärt, Putin habe uns alle hinters Licht geführt. Aber es gab | |
| ja tatsächlich immer wieder Warnungen. Von den baltischen Staaten, Polen, | |
| zuletzt auch von den USA. Warum wollten wir das nicht hören? | |
| Wir haben, wenn man Jugoslawien ausklammert, sieben Jahrzehnte Frieden in | |
| Europa erlebt. Die Vorstellung, dass mitten unter uns ein Krieg ausbrechen | |
| kann, war durch Verhandlungen und Diplomatie so weit weggerückt, dass man | |
| das nicht mehr für möglich gehalten hat. Ich war noch vor Weihnachten in | |
| Russland, habe mit vielen Leuten gesprochen. Da war unisono zu hören, es | |
| wird alles Mögliche passieren, aber ein Krieg auf gar keinen Fall! | |
| Unvorstellbar war auch, dass sich Putin noch vier, fünf Stunden mit dem | |
| französischen Präsidenten und dem deutschen Bundeskanzler hinsetzen würde, | |
| um ihnen ins Gesicht zu lügen. Denn die Maschinerie muss zu diesem | |
| Zeitpunkt längst angelaufen sein. | |
| War es also ein Fehler, bis zum Schluss auf Verhandlungen zu setzen? | |
| Nein, bis zuletzt zu versuchen, Krieg durch Verhandlungen zu verhindern, | |
| ist richtig. Was ich mich frage, ist, wie man eigentlich mit einem | |
| Staatsführer, der anderen offenkundig und wissentlich ins Gesicht gelogen | |
| hat, in Zukunft noch verhandeln, Abmachungen treffen, Verträge schließen | |
| will. Dazu fehlt mir im Moment die Fantasie. | |
| Ist es nicht an der Zeit, generelle Überzeugungen infrage zu stellen? Sie | |
| und viele andere haben immer behauptet, die Nato-Osterweiterung sei ein | |
| Fehler gewesen. Das habe Russland unnötig provoziert. Heute muss man sagen: | |
| Wäre die Ukraine 2008 Mitglied der Nato geworden, dann wäre ihr dieser | |
| Überfall wohl erspart geblieben. | |
| Man muss sehr vorsichtig sein mit solchen Einschätzungen und immer auch die | |
| Atommacht Russland mitdenken. Ich glaube aber, wir werden uns sehr wohl | |
| über die Entwicklungen der letzten 20 Jahre beugen müssen. Auch wir im | |
| Westen haben mit Sicherheit Chancen und Möglichkeiten liegen lassen. | |
| Wann soll das gewesen sein? | |
| 2001 zum Beispiel. In seiner Rede vor dem Bundestag hat Putin von einem | |
| europäischen Haus gesprochen. Die Rede ist ja damals auch von allen | |
| Fraktionen mit stehenden Ovationen begleitet worden. Da waren die Türen | |
| offen. Wir werden später irgendwann rausfinden, warum diese Rede zwar | |
| beklatscht, aber in die Schublade gelegt wurde. Aber das ist jetzt alles | |
| vergossene Milch, denn mit dem, was der russische Präsident jetzt macht, | |
| schüttet er alles in den Abgrund. | |
| Sie klingen jetzt so, als hätte man Putin einfach zu irgendeinem Punkt noch | |
| weiter entgegenkommen müssen und dann hätte man sich all dies ersparen | |
| können. Glauben Sie nicht, dass Sie darin demselben Irrtum weiter | |
| aufsitzen? | |
| Sie können mir glauben, dass ich über meine Irrtümer sehr intensiv | |
| nachdenke. Aber wir können doch jetzt nicht so tun, als hätte es die 20, 30 | |
| Jahre davor nicht gegeben. Und da kann man doch nicht sagen, die eine Seite | |
| hat alles richtig gemacht über 30 Jahre und die andere Seite hat alles | |
| falsch gemacht. So fährt Konfliktlösung vor die Wand. Aber noch mal, das | |
| ist jetzt auch egal. Wir kehren wahrscheinlich zurück in die 50er, 60er | |
| Jahre, die Anfangsphase des kalten Krieges, wo es ganz wenige Verbindungen | |
| gab, wo es wenige Möglichkeiten gab, was untereinander und miteinander | |
| abzustimmen. In diese durchaus finstere Zeit können wir zurückfallen. Ich | |
| habe nur noch eine sehr, sehr kleine Hoffnung. | |
| Welche? | |
| Dass jetzt doch ein paar Leute um Putin herum aufwachen und sagen, das | |
| können wir so nicht machen. Ich nehme die Stimmung derzeit in Russland | |
| anders wahr als nach der Annektierung der Krim. Damals haben 90 Prozent der | |
| Russen, mit denen ich geredet habe, gesagt, das sei richtig. Doch nun hieß | |
| es in Gesprächen immer, um Gottes willen, kein Krieg. | |
| Sie hoffen, dass Putin von seinen eigenen Leuten gestürzt wird? | |
| Jedenfalls müssen sie ihn dringend zur Umkehr bringen. Dieser Präsident | |
| reißt neben vielem anderen auch die Russische Föderation in den Abgrund. | |
| Die EU hat Wirtschaftssanktionen beschlossen. Russische Banken sollen zudem | |
| vom internationalen Zahlungssystem Swift ausgeschlossen werden. Finden Sie | |
| die Sanktionen richtig? Sie haben solche in der Vergangenheit abgelehnt. | |
| Ich war kein Freund von Sanktionen. Die seit acht Jahren geltenden | |
| Sanktionen waren nicht erfolgreich, im Gegenteil. Aber auf der anderen | |
| Seite muss man auch ehrlicherweise sagen, da die militärische Option nicht | |
| zur Verfügung steht und die diplomatische nichts gebracht hat, bleibt nur | |
| noch dieses Feld der wirtschaftlichen Beeinflussung. | |
| Klebte die SPD bislang zu sehr an den entspannungspolitischen Vorstellungen | |
| der späten 1960er Jahre? Sie selbst geben ja auch kein Interview, ohne | |
| Willy Brandt und Egon Bahr zu erwähnen. | |
| Ich habe bei Egon Bahr eine ganze Menge lernen dürfen, wir haben auch seine | |
| letzte Russlandreise zu Michael Gorbatschow zusammen gemacht. Egon Bahr hat | |
| immer für Freiheit und Selbstbestimmung gestanden und betont: Nur der | |
| Erhalt des Friedens steht da drüber. Denn ohne Frieden sind alle anderen | |
| Werte am nächsten Tag gegenstandslos. Dieser Satz bleibt wahr. | |
| Ex-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU, behauptet, wir | |
| hätten die Lehre von Schmidt und Kohl vergessen, dass Verhandlungen immer | |
| den Vorrang haben, aber man militärisch so stark sein muss, dass | |
| Nichtverhandeln für die andere Seite keine Option sein kann. Haben wir in | |
| unserer friedenspolitischen Fixierung die Wehrhaftigkeit vergessen? | |
| Auch diese Frage gehört auf den Prüfstand. Ich bin bisher immer davon | |
| ausgegangen, dass Rüstungsspiralen nie gut sind, sondern die Kriegsgefahr | |
| eher erhöhen. Aber wenn man es mit so viel Irrationalität zu tun hat wie | |
| jetzt bei Putin, dann muss auch dieser Punkt wahrscheinlich eine andere | |
| Beachtung finden. | |
| Deutschland wird jetzt auch Panzerabwehrwaffen und Boden-Luft-Raketen | |
| liefern. Ein Paradigmenwechsel. Der notwendig ist? | |
| Alles andere wäre moralisch und auch politisch kaum aushaltbar gewesen. | |
| Sie stehen einer zivilgesellschaftlichen Vereinigung vor, dem | |
| Deutsch-Russischen Forum. Laut FAZ waren Sie am 5. Januar bei einem Treffen | |
| der sogenannten Moskau Connection der SPD, und zwar auch mit dem | |
| Gazprom-Lobbyisten Gerhard Schröder, mit Heino Wiese, der diese Woche | |
| seinen Posten als russischer Honorarkonsul niedergelegt hat, und mit | |
| Innenstaatssekretär Johann Saathoff. Worum ging es da? War das auch rein | |
| zivilgesellschaftlich? | |
| Herr Saathoff, der bisherige Russlandbeauftragte der Bundesregierung, hatte | |
| eingeladen. Wir haben dort über Möglichkeiten geredet, auch über die | |
| zivilgesellschaftliche Ebene Kontakte weiter zu halten. Wenn nun schon eine | |
| Einladung eines Bundestagsabgeordneten zu einem Gespräch vorwerfbar ist, | |
| dann wird es ja ein bisschen skurril. | |
| Was ist daran skurril, einmal nachzufragen, wenn Sie mit Ihrer | |
| zivilgesellschaftlichen Organisation jemandem wie [2][Gerhard Schröder] | |
| helfen, den Lobbyismus für Gazprom so zu gestalten, dass Putin sich hier | |
| energiepolitisch unverzichtbar macht? Sie haben doch über viele Jahre den | |
| Boden mit dafür bereitet, dass niemand mehr in Deutschland davon ausging, | |
| dass Putin die Ukraine angreifen würde. | |
| Ich weiß nicht, welches Feld ich Herrn Schröder bereitet haben soll. Ich | |
| war in keine seiner Entscheidungen einbezogen oder daran beteiligt. Ich | |
| arbeite ehrenamtlich für die Verständigung zwischen zwei Völkern, ohne | |
| einen einzigen Pfennig dafür zu erhalten. Ich lasse mir vieles vorwerfen, | |
| aber nicht, dass ich viel Zeit und Energie darauf verwende, für Austausch | |
| und Begegnungsmöglichkeiten zwischen Menschen zweier Länder zu arbeiten. | |
| Aber zum zivilgesellschaftlichen Austausch hat zu jedem Zeitpunkt die | |
| wirtschaftliche Verflechtung gehört. Das [3][deutsch-russische Forum] war | |
| ein Teil des Komplexes, in dem auch wirtschaftliche Kontakte geknüpft | |
| worden sind. Haben Sie nicht das Gefühl, dass Sie und das Forum nur ein | |
| Vehikel waren für Deals, an denen sich andere bereichert haben, die dann | |
| darauf hingewirkt haben, dass hier Putin systematisch falsch eingeschätzt | |
| wurde? | |
| Ich weiß nicht, welche Kenntnisse und welche Vorstellungen Sie vom | |
| Deutsch-Russischen Forum haben. Wir organisieren zum Beispiel seit Jahren | |
| Austauschprogramme und den größten Sprachwettbewerb für Russisch in | |
| Deutschland, wir organisieren Jugendforen, Seminare für Führungkräfte und | |
| Journalisten und betreuen in Abstimmung mit der Bundesregierung die 90 | |
| Städtepartnerschaften zwischen unseren beiden Ländern. Aber wir verfolgen | |
| keine wirtschaftliche Tätigkeit. | |
| Gerhard Schröder bekommt hohe Geldsummen für seine Tätigkeiten für | |
| russische Energiekonzerne. Nun auch für den Aufsichtsrat von Gazprom. Wäre | |
| es jetzt nicht moralisch geboten, seine Ämter sofort niederzulegen, so wie | |
| es auch Österreichs Ex-Kanzler Kern getan hat? | |
| Das muss Gerhard Schröder ganz allein für sich entscheiden. | |
| Setzt das Deutsch-Russische Forum seine Arbeit fort? | |
| Wir hatten am Donnerstag eine lange Vorstandssitzung. Wir arbeiten als | |
| zivilgesellschaftliche Organisation seit 25 Jahren daran, Brücken zu bauen, | |
| damit das, was jetzt passiert ist, nicht passiert. Etliche Mitstreiter, ich | |
| selbst eingeschlossen, haben nun auch ein Gefühl der Sinnlosigkeit dieses | |
| Tuns. Wozu war das eigentlich alles gut? | |
| Sehen Sie denn Möglichkeiten, die Kontakte des Deutsch-Russischen Forums zu | |
| nutzen, um in Russland die Opposition zu unterstützen und die Menschen, die | |
| aktuell gegen den Krieg protestieren? | |
| Wir haben in unserer Erklärung ganz klar formuliert, dass wir an der Seite | |
| der Russinnen und Russen stehen, die den Mut haben, sich gegen diesen Krieg | |
| zu stellen. Das sagt jeder von uns auch in seinen privaten Gesprächen. Wir | |
| spüren, dass viele, vor allem junge Russinnen und Russen, diesen Überfall | |
| auf die Ukraine nicht mittragen. Bei allem sollten wir aber nicht | |
| vergessen: Die Russen und die Russische Föderation als größtes Land der | |
| Erde wird es weiter geben. Sie werden weiterhin die zweitgrößte Atommacht | |
| der Welt sein. Freundschaften kann man beenden, Nachbarschaft nicht. Das | |
| heißt, wir werden auch in Zukunft mit diesen Nachbarn umzugehen haben. Und | |
| dazu wird es mit Sicherheit auch irgendwann wieder zivilgesellschaftliche | |
| Kontakte und Begegnungen geben müssen. | |
| 27 Feb 2022 | |
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