# taz.de -- Matthias Platzeck zur Brandenburg-Wahl: „Diplomatie ist eine heil… | |
> Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) über | |
> enttäuschte Menschen im Osten und welche Rolle der Ukraine-Krieg im | |
> Wahlkampf spielt. | |
Bild: Matthias Platzeck begutachtet 1997 die Oderflut | |
taz: Herr Platzeck, im Moment holt die SPD in Brandenburg [1][in den | |
Umfragen auf, aber die AfD liegt nach wie vor vorn]. Was muss | |
Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) tun, damit das Hochwasser für ihn | |
bei den Wahlen am 22. September nicht zum Waterloo wird? | |
Matthias Platzeck: Das, was er immer tut, vorausschauend und überlegt auf | |
die Situation reagieren. Er hat bereits am Sonntag mit den Landräten, dem | |
THW und der Feuerwehr nötige Maßnahmen vorbereitet. Seine Erfahrungen als | |
früherem Umwelt- und Innenminister kommen ihm dabei zugute. | |
Machen Sie sich Sorgen um Brandenburg? | |
Platzeck: Ich bin nach wie vor optimistisch, dass [2][die | |
Sozialdemokratische Partei mit Dietmar Woidke] und wegen Dietmar Woidke am | |
22. September die Wahl gewinnt. Die Bilanz des Ministerpräsidenten ist sehr | |
gut. Unter den ostdeutschen Ländern steht Brandenburg exzellent da. Es ist | |
das Land mit dem größten Wirtschaftswachstum. Die Regierung Woidke hat hier | |
in den letzten fünf Jahren deutlich geliefert. Und er hat auch eine sehr | |
gute persönliche Bilanz. Alle Umfragen sagen, dass er mit großem Abstand | |
der beliebteste Politiker in diesem Land ist. | |
taz: Sie selbst waren vor Woidke Ministerpräsident von Brandenburg, davor | |
waren Sie auch Umweltminister. Bundesweit bekannt geworden sind Sie 1997 | |
bei der Oderflut als allseits präsenter „Deichgraf“, der sich um die | |
Menschen kümmert. Woidke gilt als eher spröde und bürokratisch, alles | |
andere als charismatisch, geschweige denn als Kuscheltyp. Wie erklären Sie | |
sich seine Popularität? | |
Platzeck: Bei Wahlveranstaltungen, an denen ich in den letzten Tagen | |
zusammen mit ihm teilgenommen habe, war deutlich spürbar, dass er ein | |
großes Vertrauen bei den Menschen genießt. Kuscheltyp hin oder her, | |
Vertrauen ist eine der wichtigsten Währungen, die wir überhaupt haben. | |
taz: Knapp 35 Jahre nach dem Mauerfall sind etliche Bücher über | |
Ostdeutschland erschienen. Mit allerhand Thesen über mögliche Gründe für | |
den großen Zuspruch der AfD im Osten. Was sagen Sie? | |
Platzeck: Da spielen viele Dinge rein, unter anderem die nicht selten | |
überhebliche Debatte über Ostdeutschland. Und natürlich gibt es in der | |
ostdeutschen Gesellschaft Nachwirkungen, was den totalen Zusammenbruch der | |
90er und 2000er Jahre angeht. Die Deindustrialisierung. Die Abwanderung. | |
Wenn Sie 1,5 Millionen bis 2 Millionen Menschen, vorwiegend junge Menschen | |
verlieren, wird eine Gesellschaft, die diesen Verlust verkraften muss, | |
nicht per se mutiger und zuversichtlicher. Das ist erst mal zu verarbeiten. | |
Und wenn Sie abheben auf die ja geringere Achtung, die demokratische | |
Institutionen im Osten Deutschlands genießen, wie Umfragen zeigen, hat das | |
natürlich Ursachen. | |
taz: Die wären? | |
Platzeck: Eine der Hauptursachen ist die totale Unterrepräsentanz von | |
Ostdeutschen in ebendiesen vielen Institutionen. Damit geht natürlich auch | |
eine Haltung einher: Sind ja nicht meine Institutionen. Nehmen Sie nur die | |
Gerichte, die Hochschulen oder die Medien – überall sind die Spitzenposten | |
mit Westdeutschen besetzt. | |
taz: Was wäre da noch? | |
Platzeck: Wir haben eine völlig ungleiche Vermögensverteilung. Ein Großteil | |
der Immobilien, viele Wälder und Äcker und was auch immer gehört | |
mittlerweile Westdeutschen. Unzählige zahlen ihre Mieten nach | |
Westdeutschland. Wenn Sie eine Ferienwohnung an der Ostsee mieten, zahlen | |
Sie die Mieten oft nach Nordrhein-Westfalen. Bei Erbschaften und Vermögen | |
stellt der Osten nur einen Bruchteil. Die Abschlüsse von Ostdeutschen | |
mussten meist nachgeholt werden, was natürlich eine Abwertung ist. Wenn | |
eine kleinere Gesellschaft einen Systemwettbewerb verloren hat, wäre es | |
klug und erfolgversprechend gewesen, sie bei der Vereinigung mit einer | |
größeren Gewinnergesellschaft zumindest auf die Dinge abzuklopfen, die in | |
den 40 Jahren DDR ganz gut funktioniert haben, und die mit in das | |
gemeinsame Deutschland zu nehmen. | |
taz: Was hätte das sein können? | |
Platzeck: Ich denke da an die Stellung der Frauen in der Gesellschaft, | |
Ganztagsschulen, Kitas und Polikliniken, die wir heute verschämt nicht mehr | |
Polikliniken nennen, sondern medizinische Versorgungszentren. Es darf ja | |
nicht nach Osten klingen. Strukturelle Elemente, die vernünftig waren, | |
hätte man ihrer ideologischen Gehalte entkleiden und mitnehmen müssen. Ist | |
alles vermieden worden. Man hatte gewonnen, triumphierte, und dann wundert | |
man sich heute, dass das nachwirkt. Dieser Erfahrungshintergrund, der auch | |
die DDR-Vergangenheit einschließt, hat dazu beigetragen, dass es heute eine | |
deutlich ausgeprägte ostdeutsche Identität gibt, die viele Menschen in | |
Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg | |
verbindet. | |
taz: Aber warum kommt das erst jetzt zum Vorschein und warum haben in | |
[3][Thüringen] 38 Prozent der Jungwähler AfD gewählt? | |
Platzeck: Wer individualpsychologisch Verletzungen und Missbräuche erlitten | |
hat, der liegt auch selten schon ein Vierteljahr später beim Psychologen | |
auf der Couch, das kommt erst später hoch. Gesellschaftliche Traumata | |
werden oft über Generationen weitergegeben. Der heimische Küchentisch | |
schlägt jede andere Bildungs- und Informationseinrichtung. | |
taz: Was folgt daraus? | |
Platzeck: Damit müssen wir umgehen und zumindest den Versuch starten. Das | |
beginnt übrigens immer mit einem offenen ehrlichen Gespräch, was wir viele | |
Jahre Ost-West nicht geführt haben. Und, das ärgert mich auch als | |
überzeugten Ostdeutschen, dass der Osten immer dann Mode wird, wenn es | |
solche Wahlergebnisse gibt. Dann trommelt man alles zusammen und sagt: Was | |
ist denn da los? Aber danach ist immer gleich Schluss und man widmet sich | |
wieder der westdeutsch geprägten Gesamtdebatte. Bisher war das zumindest | |
so. Aktuell gibt ein paar Anzeichen, dass es dieses Mal vielleicht anders | |
ist. | |
taz: Dann sage ich jetzt mal als Westlerin: Viele ärgert maßlos, dass | |
Ostdeutsche von Überfremdung reden, obwohl in ihrer Gegend kaum Migranten | |
leben. Dass Ostdeutsche von sich behaupten, nicht rechtsextrem zu sein, | |
aber einer Partei Vorschub leisten, die die Nazivergangenheit verharmlost | |
und deren Führungspersonal zum Teil aus Faschisten besteht. Haben Sie für | |
diesen Ärger auch Verständnis? | |
Platzeck: Das verstehe ich nicht nur, ich erfahre es jeden Tag, ich | |
diskutiere ja viel mit westdeutschen Kollegen und Freunden. Da kommt dann | |
auch gerne mal das Wort vom undankbaren Ossi. Vom unbelehrbaren Ossi. Oder, | |
[4][um mit Mathias Döpfner zu sprechen, immerhin der Vorstand der Axel | |
Springer AG], des größten West-Medienkonzerns: „Die Ossis sind entweder | |
Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ So eine | |
Debatte muss man fundierter und tiefergehend führen. Was sich in | |
Ostdeutschland Bahn bricht, ist etwas, was die Summe der Ereignisse | |
ausmacht und damit entschuldige ich gar nichts. Es gibt Dinge, die sind | |
nicht entschuldbar. Aber sie haben Ursachen, trotzdem. | |
taz: Die vermeintlich Zukurzgekommenen rächen sich, indem sie den | |
etablierten Parteien mit ihrem Wahlverhalten richtig eins auswischen. Die | |
AfD wird das ja nicht richten. | |
Platzeck: Das wird vordergründig vielleicht auch nicht erwartet. Man will | |
hier auch Zeichen setzen. Wir dürfen bei allen AfD-Wählern aber nicht | |
vergessen, dass 70 Prozent andere Wege suchen, die vielleicht auch nicht | |
zufrieden sind mit manchen Dingen. Wenn ich die Debatten, an denen ich | |
teilnehme, sozusagen als Feldversuch richtig zusammenfasse, dann wollen | |
Menschen Sicherheit in ihrem Land und sie wollen [5][einen handlungsfähigen | |
Staat]. | |
taz: Geht das präziser? | |
Platzeck: Holzschnittartig zusammengefasst haben wir zweimal bei großen | |
Fragen keine entsprechenden Antworten und Lösungen gefunden. Nach 2015 in | |
der Flüchtlingskrise, wo eine schon fast scheintote AfD komplett wieder | |
auferstanden ist. Bei der Frage Krieg und Frieden in der Ukraine haben wir | |
völlig zurecht gesagt, wir unterstützen die Ukraine mit Waffen. Kein Land | |
in Europa hat das so umgesetzt wie Deutschland, aber das reicht den | |
Menschen nicht, weil sie zum Beispiel Ängste haben vor einer Eskalation bis | |
hin zu einem Atomkrieg. Auf diese beiden Fragen haben wir keine | |
zufriedenstellenden Antworten gefunden, die den moralischen und sachlichen | |
Anforderungen genügen. Das hat sich ein Ventil gesucht. | |
taz: AfD und BSW. | |
Platzeck: So ist das in einer Demokratie. Auch [6][Sahra Wagenknecht] lebt | |
letztlich nur von diesen beiden Themen. Vielleicht muss man das auch noch | |
mal klar sagen: Wenn zwei Parteien in relativ kurzer Zeit so reüssieren, | |
dass sie in Thüringen fast die Hälfte der Wählerschaft begeistern, müssen | |
sich etablierte Parteien fragen, was sie tun können, damit sich die | |
Menschen mit ihren Empfindungen wieder mehr berücksichtigt fühlen. | |
taz: Was heißt das in Bezug auf weitere Waffenlieferungen an die Ukraine? | |
Platzeck: An der Kriegssituation hat sich relativ wenig geändert. Die | |
Russen machen sogar weiter Geländegewinne in der Ostukraine. „Wollt ihr die | |
nächsten zwei Jahre das einfach so weitermachen?“, fragen die Leute auf den | |
Wahlveranstaltungen. | |
taz: [7][Vergangene Woche hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) überraschend | |
erklärt, die Zeit sei reif für Friedensverhandlungen]. | |
Platzeck: Nicht nur in Anbetracht dessen, was in der Bevölkerung debattiert | |
wird, halte ich das, genau wie die weitere Solidarität mit dem ukrainischen | |
Volk, für absolut richtig. Egal wo Krieg ist, egal wer den Krieg führt – es | |
ist fast eine heilige Pflicht, immer wieder den Versuch zu machen, den | |
Krieg durch Verhandlungen und diplomatische Bemühungen zu beenden. | |
taz: Sie sagen selbst, Putin gewinnt Land, die Panzer rollen. Glauben Sie, | |
ein Frieden wäre möglich, ohne dass die Ukraine große territoriale Verluste | |
erleidet und damit viele weitere Menschen auf der Flucht wären? | |
Platzeck: Das wäre derzeit alles Spekulation. Noch mal gesagt: Die Versuche | |
müssen erstmal gemacht werden. Die Uraufgabe von Diplomatie ist, 100 | |
Türklinken anzufassen und Lösungsansätze zu suchen. Diplomatie kennt viele | |
Wege. Es gibt auch diplomatische Bemühungen, die kommen nicht an die | |
Öffentlichkeit, und das ist auch gut so. | |
taz: [8][Sie waren 10 Jahre Vorsitzender des deutsch-russischen Forums]. | |
Die Verständigung mit Russland in Form einer nachträglichen | |
völkerrechtlichen Regelung, die Sie 2014 nach der Annexion der Krim durch | |
Russland gefordert haben, hat Ihnen bei Kritikern den Ruf „Putin-Freund“ | |
eingebracht. | |
Platzeck: Es reicht ja heute fast schon, das Wort Diplomatie in den Mund zu | |
nehmen, um als Putin-Freund bezeichnet zu werden. Das richtet Schaden in | |
der Gesellschaft an. | |
taz: Das müssen Sie erklären. | |
Platzeck: Das Problem ist, dass Diskussionen über berechtigte Fragen und | |
Ängste von Menschen sofort damit diskreditiert werden, man habe keine | |
Solidarität mit dem ukrainischen Volk oder sei ein Freund Putins. Wir haben | |
nur noch diese schematischen Diskussionen, die die Menschen aber spüren. | |
Entweder ziehen sie sich dann aus solchen Debatten zurück oder sie zeigen | |
an der Wahlurne ihre Meinung. | |
16 Sep 2024 | |
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