| # taz.de -- Ostdeutsche und ihr Wahlverhalten: Schluss mit dem Verstehen | |
| > Die Parteien der Mitte meinen, mit empathischer Kümmerergeste „das Ossi“ | |
| > für sich gewinnen zu können. Sie sollten sie lieber zum Mitwirken | |
| > auffordern. | |
| Bild: Das arme Ossilein, das unbekannte Wesen: Wahlkampfveranstaltung der AfD i… | |
| Hätten Bürger westlich der ehemaligen Staatsgrenze aus Ampelfrust auch in | |
| diesem Ausmaß Extremisten gewählt? Oder ziehen die Ostdeutschen die gesamte | |
| Republik nach rechts? Einmal mehr werden nun die professionellen Exegeten, | |
| die Ossi-Versteher bemüht. Sie sollen nach dem Wahlschock das Ossi, das | |
| unbekannte Wesen erklären. Dieses [1][arme Ossilein] ist dann in der Regel | |
| Opfer einer kolonialen Westattitüde seit 1990, sein Protestwahlverhalten | |
| damit erklär-, wenn nicht gar entschuldbar. Als sei die Bundesrepublik West | |
| 1989 über uns hergefallen. Keine Spur von Selbstkritik bei den hiesigen | |
| Schnellfrustrierten im Dauerempörungsstatus. | |
| Wenn die Hälfte der Wählerinnen und Wähler Hass- und Hetzparteien wählt, | |
| dann schäme ich mich inzwischen für meine Artgenossen. Die hielt ich stolz | |
| mal für die besseren Deutschen: vital, lebensfroh, improvisationsfähig, | |
| gemeinschaftsfähig, robust. „Drüben“ hingegen eine in Ritualen erstarrte | |
| langweilige Verwandtschaft in potemkinschen Wohlstandskulissen. | |
| Das hat sich seit etwa eineinhalb Jahrzehnten gründlich geändert. Wähler | |
| für die Folgen ihres Wahlverhaltens verantwortlich zu machen, ist keine | |
| Wählerbeschimpfung. Eine Anamnese dieser Wahlergebnisse ist dringender denn | |
| je! | |
| Ost und West sind von Erzählungen geprägt, die beide mit „Es war einmal“ | |
| beginnen und von Märchenländern berichten. Auch in Westdeutschland ist der | |
| amerikanisch inspirierte Traum längst zusammengebrochen, man müsse nur | |
| genügend Teller waschen, um Millionär zu werden. Die Legende vom Aufstieg | |
| durch eigene Leistung glaubt niemand mehr. | |
| ## Sinn und Unsinn wurden dem Zoni im Überschuss verordnet | |
| Schlimmer noch: Im so genannten Abendland erodierte weit vor der | |
| vergifteten deutschen Umarmung 1990 die ideelle Basis eines | |
| gesellschaftlichen Grundkonsenses. Max Weber hielt schon 1904 den | |
| „Traditionalismus“ für den größten Feind des Kapitalismus. Also die Bind… | |
| an Ideale und eine Genügsamkeit, die immaterielle Lebensziele priorisiert. | |
| Ein totalitärer Materialismus aber, der auf alle Lebensbereiche | |
| durchgreift, stiftet keinen Sinn. Sinn und Unsinn wurden dem Zoni im | |
| Überschuss verordnet. In die Einheit brachten wir einen nicht ganz | |
| freiwilligen, hedonistisch kompensierten Geist der Genügsamkeit mit. Der | |
| musste mit dem Beitritt ins Land der Verheißungen folgerichtig in maximales | |
| Anspruchsdenken umschlagen. Die Anbetung eines Westens im Konsumrausch | |
| musste dann ebenso folgerichtig enttäuscht werden. | |
| ## Kein Besitz und kein Idealismus | |
| Jeder, der bei Trost war – und sogar Oskar Lafontaine war es damals –, | |
| hätte wissen müssen, was mit einer schnellen Währungsunion und dem Beitritt | |
| auf uns zukam. Wir kannten doch auch das ökonomische Grundgesetz „Der | |
| Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“! | |
| Die [2][ausbleibende Verheißung des Glücks durch Besitz] wurde durch keinen | |
| Idealismus mehr aufgefangen. Spätestens die schleichende Radikalisierung | |
| des Beitreter-Teilvolks hat das Master-Narrativ, es sei dem Ossi 1989 vor | |
| allem um Freiheit und Demokratie gegangen, längst widerlegt. Zur ersten | |
| freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 straften die Wähler das Bündnis 90, | |
| den Zusammenschluss der Bürgerrechtler, die gegen die SED wirklich etwas | |
| riskiert hatten, mit 2,9 Prozent ab. | |
| Nur eine Minderheit ist sich außerdem der latenten Deprivationsgefühle | |
| bewusst, die postum zu einer Ost-Identität führten. „Der Kompass ist weg“, | |
| höre ich aus Künstlerkreisen. | |
| Das empfundene Vakuum ruft nach neuen Heilsbotschaften, die unbewusst den | |
| alten möglichst nahekommen. Frappierend, welche einst parodierten | |
| Grundmuster wieder zutage treten, bis in die Generation der Erstwähler | |
| hinein. | |
| Zuerst: Es gehörte schon damals zum guten Ton, gegen den Staat zu sein, | |
| aber zugleich alles von ihm zu erwarten. In einer immer mehr von | |
| Partikularinteressen, von divergierenden narzisstischen Ansprüchen | |
| dominierten Gesellschaft wird es aber keiner Regierung mehr gelingen, eine | |
| Mehrheit zufriedenzustellen. | |
| ## Demokratie verlangt Selbstermächtigung | |
| Eine anthropologische Konstante: Es kann auf keinen Fall so bleiben, aber | |
| es darf sich um Himmels willen nichts ändern! Vor allem nicht bei mir. AfD | |
| und BSW bedienen genau diese Schizophrenie. Wie sehr jegliche Veränderung | |
| diese Gesellschaft überfordert, hat schon die Coronapandemie gezeigt. | |
| Drittens: Sehnsucht nach autoritärer Führung. Welcher der 89er | |
| Demonstranten wusste schon, dass Demokratie anstrengend ist, Mitwirkung | |
| verlangt und Selbstermächtigung? Der von Mitverantwortung entlastende | |
| Spruch „die Genossen werden sich schon etwas dabei gedacht haben“ spukt | |
| weiter. Kommunalpolitiker berichten aus erster Hand vom populären | |
| Führerprinzip. | |
| Der traditionelle Spruch „Lerne klagen, ohne zu leiden“ verweist auf die | |
| offenkundigste Schizophrenie. Laut Sachsen-Monitor und der Sächsischen | |
| Zeitung sind etwa drei Viertel der Bürger zufrieden mit ihren | |
| Lebensumständen. Und dennoch können die Apokalyptiker und Panikmacher von | |
| AfD und BSW, in Teilen auch von der CDU, auf die Motzer und | |
| Weltuntergangssüchtigen bauen. | |
| „Wir wissen zwar nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft!“, | |
| parodierten wir einst die Losungen zum 1. Mai. Abstinenz, Negativismus | |
| Naivität bis heute: Wenn ich AfD wähle, verschwindet der Klimawandel. Wähle | |
| ich BSW, lädt Väterchen Wladimir den Kollegen Wolodimir bald zum Prasdnik | |
| mit Wodka in den Kreml ein.Und die anderen Parteien meinen, mit der | |
| empathischen Kümmerergeste [3][das Ossi], das unbekannte leidende Wesen, | |
| für sich gewinnen zu können. Anstatt es endlich zu selbstbewusster | |
| emanzipatorischer Mitwirkung und Gemeinsinn, zum Größerdenken aufzufordern. | |
| Wie lautete doch der Buchtitel von Dirk Neubauer, der von den Rechten, also | |
| vom ignoranten Volk fertiggemacht wurde und als Landrat von Mittelsachsen | |
| nach zwei Jahren entnervt zurücktrat? „Das Problem sind wir!“ | |
| 19 Sep 2024 | |
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| Michael Bartsch | |
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