# taz.de -- Konflikt um die Ukraine: Eskalation mit offenem Ende | |
> Die Minsker Abkommen sind die Basis für Verhandlungen über eine | |
> friedliche Lösung. Nur: „Minsk“ gilt in der Ukraine als Zeichen einer | |
> Kapitulation. | |
Bild: Nur eine Drohgebärde? Übung des russischen Militärs nahe der Ukraine | |
Kreml-Astrolog*innen sollten jetzt einmal einen Gang zurückschalten. Es | |
ist müßig, darüber zu spekulieren, ob sich Moskau mit seiner militärischen | |
Leistungsschau an der Grenze zur Ukraine zufrieden gibt oder seine rund | |
130.000 Soldaten doch noch in das Nachbarland einmarschieren. | |
Tatsache jedoch ist: Für Russlands Präsidenten Wladimir Putin und seine | |
Entourage könnte es schlechter laufen. In ihrem Bemühen, einen Krieg zu | |
verhindern und das aus guten Gründen, reden westliche Politiker*innen | |
gebetsmühlenartig von einem [1][„hohen Preis“], den Russland zahlen müsse, | |
sollte der Ernstfall eintreten. Im Umkehrschluss bedeutet das: Tut er das | |
nicht, wird auch keine Rechnung aufgemacht. Die jedoch zahlen andere, | |
zuallererst die Ukraine. | |
In der taz war [2][unlängst die kühne Behauptung zu lesen], ein Sieg ohne | |
Kampf sei für Moskau ausgeschlossen. Von wegen. Denn ein erklärtes Ziel | |
Russlands war und ist es, die frühere sowjetische Einflusssphäre in Europa | |
wiederherzustellen und dort seine Ansprüche durchzusetzen – mit allen | |
Mitteln. Wenn das auch noch, wie jetzt im Fall der Ukraine, mit | |
freundlicher Unterstützung des Westens funktioniert und ohne dass dafür | |
russische Soldaten erneut einen Fuß auf ukrainisches Territorium setzen | |
müssen – umso besser. | |
Zur Erinnerung: Seit der [3][Orangenen Revolution von 2004], als | |
zigtausende protestierende Ukrainer*innen eine Neuwahl der gefälschten | |
Präsidentschaftswahl erzwangen, wird auch der einstige Bruderstaat vom | |
Kreml als Bedrohung wahrgenommen. Vorgeblich hatte „der Westen“ 2004 die | |
Hände im Spiel. Dass sich Menschen mangels Attraktivität von Russland | |
abwenden und nach eigenen Wegen suchen könnten, kam in der Gedankenwelt | |
eines Wladimir Putin nicht vor – bis heute nicht. | |
Schon damals stellten in der Ukraine nicht nur Expert*innen die Frage, | |
wie Europa künftig mit solchen Absetzbewegungen umzugehen gedenke. Jetzt, | |
ob der jüngsten Eskalation mit noch ungewissem Ausgang, lautet die Antwort: | |
[4][Die Minsker Abkommen von 2014/15], wohlgemerkt auch von der Ukraine | |
unterschrieben, bilden derzeit die einzige Grundlage für Verhandlungen über | |
eine Friedenslösung in der Ostukraine. | |
Der Fahrplan Moskaus ist klar: Vertreter der sogenannten Volksrepubliken | |
Donezk und Lugansk in der Ostukraine sollen mit am Verhandlungstisch | |
sitzen, was den fast achtjährigen Konflikt mit über 13.000 Toten zu einer | |
innerukrainischen Angelegenheit macht, die er de facto nicht ist; über | |
einen Autonomiestatus für besagte Gebiete mit Verfassungsrang soll ein | |
Staat im Staate geschaffen werden, über dessen Marionettenregierung Moskaus | |
Arm bis ins Kiewer Parlament reicht. | |
Dass sich die ukrainische Regierung angesichts dieser Perspektive dagegen | |
sperrt, überrascht nicht. Denn schließlich muss sie ihrer Bevölkerung | |
diesen Friedensschluss verkaufen. | |
Schon jetzt ist für weite Teile der ukrainischen Gesellschaft „Minsk“ | |
gleichbedeutend mit einer als schmachvoll empfundenen Kapitulation. Zudem | |
haben immer mehr Ukrainer*innen den Eindruck, auch Frankreich und | |
Deutschland übten als Vermittler im Normandieformat Druck auf Kiew im Sinne | |
Moskaus aus, die Minsker Vereinbarungen ins Werk zu setzen. Dabei heißt es | |
doch immer so schön, es würden keine Entscheidungen über die Ukraine | |
getroffen, sondern nur mit ihr. | |
## Polarisierung droht | |
Als Reaktion auf die „Steinmeier-Formel“, die auf eine Initiative von | |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zurückgeht und dem Minsker Prozess | |
einen neuen Impuls verleihen sollte, gingen im Jahr 2019 in Kiew Tausende | |
auf die Straße. Dieses Szenario könnte sich wiederholen. Mehr noch: Es | |
drohen eine weitere Polarisierung in der ukrainischen Gesellschaft und eine | |
dauerhafte innenpolitische Destabilisierung des Landes. | |
Mit dieser Entwicklung könnte Moskau gut leben, der Westen jedoch kann sie | |
nicht wollen. Was die Frage aufwirft, wie dessen Strategie gegenüber | |
Russland künftig überhaupt aussehen soll. Schließlich steht nichts | |
Geringeres auf dem Spiel als eine Sicherheitsarchitektur für Europa. Sollte | |
die Ukraine dieser Neujustierung als Erstes zum Opfer fallen, wäre das eine | |
Katastrophe. | |
12 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Scholz-Besuch-bei-Biden/!5833475 | |
[2] /Treffen-des-Weimarer-Dreiecks/!5830765 | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Orange_Revolution | |
[4] /Russische-Provokationen-und-die-EU/!5772367 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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