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# taz.de -- Kiewer Stimmen zum Ukraine-Konflikt: „Ich weiß, was Krieg ist“
> Die Menschen in der Ukraine scheinen relativ gelassen mit der
> Kriegsgefahr umzugehen. Über ihre Angst vor dem Krieg schweigen die
> meisten.
Bild: Der Schnee schmilzt in Kiew, auch vor der russischen Botschaft
Kiew taz | Ein Hauch von Frühling in Kiew. Die Sonne scheint warm in der
ukrainischen Hauptstadt, der Schnee taut und am Kinderspielplatz in der
Swetlizkijstraße im Stadtteil Podil tollen sich die Kinder. „Bei so einem
Wetter bin ich natürlich den ganzen Tag mit Daniel draußen“, sagt Julia
Bloschenko, 34 Jahre alt, und lässt dabei den schlafenden Daniel im
Kinderwagen nicht aus den Augen. Der ist gerade acht Monate alt geworden
und es scheint ihm zu gefallen, dass er von seiner Mutter und deren Tante
Ira, die in Donezk wohnt, aber für ein paar Tage nach Kiew gekommen ist,
hin- und hergeschoben wird.
Am Eingang des zehnstöckigen Hauses, in dem Julia Bloschenko mit ihrer
Familie wohnt, ist in dünnen Buchstaben das Wort „Schutzraum“
hingekritzelt. „Hier soll irgendwo ein Schutzraum sein. Aber ich weiß gar
nicht, wo der sich genau befindet und wie es da aussieht“, sagt sie. Ihre
Wohnung, die sie mit ihrem Mann Anton und ihrem Sohn bewohnt, ist
gemütlich, aber sehr klein, nur ein Schlafzimmer und die Küche. Julia
Bloschenko ist bei der ukrainischen Vertretung einer deutschen
Kosmetikfirma beschäftigt.
„Ich weiß, was Krieg ist, und ich weiß, was Flucht ist“, sagt sie. Sie
beginnt zu erzählen und kommt dann immer wieder ins Stocken. Gesprächen
über [1][Krieg und Kriegsangst] versucht sie normalerweise aus dem Weg zu
gehen, was nicht schwer ist, die meisten ihrer Bekannten meiden ebenfalls
derartige Gespräche, wie sie sagt. „Ich habe in Donezk gelebt, in der Nähe
vom Flughafen, einem der am meisten umkämpften Gebiete der Stadt. Auch
meine Straße ist damals beschossen worden. Und zwar auch von unserer
Seite.“ Sie meint damit die Kiewer Truppen und will das nicht weiter
ausführen, weil sie nichts sagen will, was die eine oder andere Seite
politisch ausschlachten könnte.
Im Jahr 2014 hatten Julia und Anton in Donezk heiraten wollen. Alles war
geplant, sie hatten sich sogar schon ein Haus gekauft. Doch dann wurde
Krieg geführt im Donbass und sie sind zusammen mit ihren Eltern geflohen.
Sie haben viele Verwandte und ein kleines Geschäft für Baumaterialien und
Haushaltswaren [2][in der Ostukraine] zurückgelassen.
Mehrfach seien sie 2014 und 2015 wieder nach Donezk zurückgekehrt, erzählt
Julia Bloschenko. In der Hoffnung, dass es nun wieder besser werde. Doch
Ende 2015 entschieden sich die beiden endgültig, nach Kiew zu ziehen. Anton
eröffnete dort eine Autowerkstatt, sie selbst fing bei der deutschen
Kosmetikfirma an.
## Die Frage nach der Perspektive
Das erste Jahr in Kiew war besonders traumatisierend. „Jedes Geräusch,
jedes Kratzen hat mich an den Krieg erinnert“, erzählt sie. „Ich habe in
dieser Zeit gestottert.“ Julia Bloschenko glaubt, dass sie es wegen dieser
Erfahrungen jetzt einfacher hat als viele Kiewer MitbürgerInnen. „Wer 2014
in Donezk war, kommt mit der Lage heute leichter zurecht.“ Immer wieder
werde sie von Bekannten angerufen, die wissen wollten, wie man sich am
besten einen Notfallkoffer zusammenstellt.
Die Gespräche beschränken sich meist auf organisatorische Fragen,
vielleicht entspinnt sich auch eine Diskussion über Geopolitik. „Aber über
die eigene Kriegsangst spricht man nicht“. Auch sie versuche natürlich, das
Thema zu verdrängen, räumt Julia ein. Sie sieht sich weder
Fernsehnachrichten, noch informiert sie sich im Internet. Was sie von ihrem
Mann, ihrer Mutter und ihrer Schwiegermutter höre, decke ihren
Informationsbedarf. „Jetzt aktuell glaube ich nicht an einen Krieg“ sagt
sie mit fester Stimme, schiebt dann aber nach: „Damals habe ich auch nicht
an einen bevorstehenden Krieg geglaubt.“
Aber damals ist nicht heute und sie fragt sich: „Welche Perspektiven habe
ich jetzt?“ In Donezk habe sie immer gewusst, dass sie jederzeit nach Kiew
oder eine andere ukrainische Stadt fliehen könne. Aber jetzt? „Ins Ausland
gehe ich jedenfalls nicht.“ Julia glaubt fest an eine Zukunft in Kiew. Mit
ihrem Mann sucht sie eine größere Wohnung. Schlaflose Nächte wegen der
Kriegsgefahr habe sie nicht, sagt sie. Und wenn sie mal doch nicht schlafen
kann, dann liegt das an ihrem weinenden Sohn. Der bekommt gerade seine
ersten Zähne. Dann geht Julia wieder auf die Straße und löst ihre Tante Ira
am Kinderwagen ab. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages möchte sie
gemeinsam mit Daniel erleben.
Insgesamt scheint die Mehrheit der Bevölkerung relativ gelassen mit der
Kriegsgefahr umzugehen. Aber manche haben durchaus Panik. So wie eine Frau,
die sich nur als Olja vorstellt, 55 Jahre alt, tätig im medizinischen
Bereich. Sie könne kaum noch schlafen, sagt sie am Telefon. „15
Atomkraftwerke haben wir, 15 Atomkraftwerke. Und wenn es Krieg gibt,
brennen die wie Streichhölzer.“ Es gebe doch einen Grund, dass alle jetzt
ihre Botschaften schließen. „Die Leute feiern und trinken. Sie haben
überhaupt noch nicht begriffen, was da auf uns zukommt“, sagt die Frau. „Es
ist wie ein Gelage vor der Pest. Uns steht eine große Vernichtung bevor.“
An das Leid, das sie in der Ukraine schon erfahren haben, erinnert ein
Mahnmal im Zentrum von Kiew. Bei der Michaelskathedrale, unweit des
Maidans, hängen an einer Mauer viele Porträtfotos von Menschen, die im
Krieg im Donbass gefallen sind. Fast immer steht jemand davor,
nachdenklich, schweigend, betend, mit gezogenem Hut. Es ist, als ob sie
Zwiesprache hielten mit einem der Toten. Mit anderen mag allerdings niemand
reden. Keiner erzählt, warum er oder sie hier steht.
Natascha Garadnitschewa will eigentlich auch nicht darüber reden. Schon gar
nicht am Wochenende, endlich hat sie frei. Die ganze Woche hat die
Vierzigjährige in einem großen Supermarkt geschuftet, erst als Kassiererin,
dann als Verantwortliche für den Wareneingang. Nun ist sie endlich zu
Hause, bei ihrem Mann Dmitrij, der in der Gasindustrie tätig ist.
„Ich bin gegen den Krieg“, sagt sie knapp. „Ich will mein Leben meistern,
ich arbeite für meine Kinder und ich will nicht ständig nachdenken müssen
über ein Problem, das wir im Augenblick gar nicht haben.“ Nicht nur sie sei
in ihrer Familie dieser Meinung. „Auch Artjom und Maxim denken nicht an
Krieg“, sagt sie. Die 15 Jahre alten Zwillingen chatten viel im Internet,
erzählt Natascha, auch mit Russinnen. „Die können gar nicht glauben, dass
es Krieg geben könnte.“
## Eigentlich eine Familie
Ihre Söhne, die nicht bei ihr wohnen, sieht sie nur einige Male im Monat,
immer dann, wenn sie keinen Schichtdienst hat, fährt sie in das Dorf
Popivka, zweihundert Kilometer nordöstlich von Kiew. Leider habe sie nur in
der Hauptstadt Arbeit finden können, sagt Natascha. „Aber am Ende dieses
Schuljahres werden meine Zwillinge auch nach Kiew kommen und dann hier auf
die Schule gehen.“ Sie lacht.
Doch dann hält sie inne. „Wenn es doch Krieg geben sollte, weiß ich nicht,
was ich dann mache.“ Sie überlegt. „Wahrscheinlich gehe ich zu meiner
Mutter und meinen Söhnen nach Popivka. Oder zur Familie meines Mannes nach
Poltawa. Oder vielleicht bleibe ich auch einfach hier in Kiew.“ Doch am
ehesten wohl aufs Dorf, wo die Zwillinge und ihre Mutter leben.
Obwohl Natascha Garadnitschewa eben noch behauptet hatte, dass Krieg
derzeit gar kein Problem sei, macht sie sich sehr genau Gedanken, wie er
denn beginnen könnte, der Einmarsch der russischen Truppen. „Wenn die
Russen einmarschieren, werden sie entweder von Belarus im Norden kommen
oder über Charkiw im Osten. In beiden Fällen haben die Leute in Popivka
wohl Glück“, ist sich Natascha Garadnitschewa sicher.
Natürlich macht sie sich um ihre Söhne große Sorgen und je länger sie
darüber redet, um so mehr redet sie sich dabei in Rage. „Ich will auf
keinen Fall, dass meine Zwillinge in einem Krieg kämpfen. Meine Söhne habe
ich nicht für den Krieg geboren. Ich brauche auch keine Orden, die sie nach
dem Tod überreicht bekommen. Das einzige, was ich brauche, ist das Lachen
von glücklichen Enkeln.“
„Man muss sich das mal vorstellen. Früher waren wir eine große Familie!“
Unglaublich klingt das, was sie über Russen und Ukrainer zu sagen hat. „Wir
haben gegen den Hitler-Faschismus gekämpft. Und auch jetzt noch sind die
Russen unsere Brüder. Ist schon schlimm, wenn dein Bruder gleichzeitig dein
Feind ist.“ Natürlich haben viele Menschen in Russland große Sympathien mit
der Ukraine. Die Menschen sind doch untereinander verwandt. „Mein
inzwischen toter Vater ist ja aus Russland. Und ab und zu telefoniere ich
mit den Verwandten und die haben große Angst um uns.“
Das Telefon läutet. Es gibt Ärger. Eine Kollegin meint, mit den Waren heute
sei etwas nicht in Ordnung gewesen. Natascha Garadnitschewa nimmt sich das
zu Herzen, in diesem Moment mehr als den drohenden Krieg.
13 Feb 2022
## LINKS
[1] /Konflikt-um-die-Ukraine/!5831052
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## AUTOREN
Bernhard Clasen
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