| # taz.de -- Russische Bedrohung in der Ostukraine: Schweigen über den Krieg | |
| > Wie blicken die Menschen in der Ostukraine auf die russische Gefahr? | |
| > Viele verstecken ihre Angst, andere demonstrieren. Eindrücke aus Charkiw. | |
| Bild: Charkiw am 5. Februar: Demonstration gegen den Aufmarsch russischer Trupp… | |
| Charkiw taz | Hundert Gramm?“, fragt die stämmige Wirtin ihren einzigen | |
| Gast in einem Imbiss im Hauptbahnhof der ostukrainischen Metropole Charkiw | |
| und nimmt schon die Wodkaflasche in die Hand. Dann sieht die Frau, die | |
| davon lebt, ihre Gäste zum Wodkakonsum zu animieren, sich um, auf ihrem | |
| Gesicht macht sich plötzlich Unsicherheit breit. „Was meinen Sie, kommt der | |
| Krieg?“ | |
| Ohne die Antwort abzuwarten, schiebt sie nach, dass das momentan die Frage | |
| sei, die sie am meisten umtreibe. Einen Teil der Schuld vermutet sie auch | |
| bei der eigenen Regierung. Auf die ist sie gar nicht mehr gut zu sprechen, | |
| seitdem die Behörden ihren gutgehenden Kiosk in Bahnhofsnähe einfach | |
| geschlossen haben und ihr dabei niemand zur Seite gestanden hatte. | |
| Plötzlich wird die Tür ruckartig aufgestoßen, ein Mann mit zerrissener | |
| Militärjacke und zwei Tragetaschen in der Hand, betritt den Imbiss, tritt | |
| die Tür mit dem Fuß wieder zu, stellt die Taschen auf den Boden und sich | |
| wortlos an die Theke. Die Wirtin versteht sofort, holt eine Flasche Wodka | |
| hervor und gießt ihrem Stammkunden 200 Gramm ein – ein Milchglas voll. | |
| „Heute mal keine vulgären Sprache“, schärft sie ihrem Kunden ein, „da | |
| hinten sitzt ein Ausländer.“ „Hoffentlich kein Amerikaner“, antwortet de… | |
| Dann sprechen die beiden miteinander, über das Wetter, die Vergangenheit | |
| und gemeinsame Bekannte. Nur über eines sprechen sie nicht: über einen | |
| möglichen Krieg gegen Russland und ihre Furcht davor. | |
| ## Unter vier Augen | |
| Diese Szene ist typisch für die Stimmung dieser Tage in Charkiw. Über die | |
| eigene [1][Angst vor einem Krieg] spricht man nur unter vier Augen. Im | |
| größeren Kreis gibt man sich entweder stark oder tauscht sich über andere | |
| Themen aus. | |
| Lidiya Pliszka ist Journalistin und vor fünf Jahren in die USA gezogen. | |
| Jetzt ist sie wieder für ein paar Wochen zurück nach Hause, nach Charkiw, | |
| gekommen. Sie kann nicht verstehen, warum von Seiten der Charkiwer | |
| Stadtverwaltung so wenig getan wird, um die Bevölkerung auf den Kriegsfall | |
| vorzubereiten. Obwohl sie nicht einmal die US-Staatsbürgerschaft besitze, | |
| werde sie ständig von der US-Botschaft in Kiew mit Informationen darüber | |
| informiert, wie sie sich im Krisenfall zu verhalten habe. | |
| Sie erfahre von der US-Botschaft mehr als die Bürger ihrer Heimatstadt | |
| Charkiw von ihrer Stadtverwaltung. „Das geht mir nicht in den Kopf“, sagt | |
| Pliszka kopfschüttelnd, „dass der Bürgermeister von Charkiw versprochen | |
| hat, der Himmel über Charkiw werde friedlich bleiben. Woher nimmt der diese | |
| Gewissheit? Der kann doch gar nicht wissen, wie es weitergehen wird“, meint | |
| sie. Die große Sorglosigkeit der Behörden und der Bevölkerungsmehrheit | |
| findet sie „nicht sehr erwachsen“. Nachdenklichkeit und auch Angst spüre | |
| man nur im direkten Kontakt mit guten Bekannten, meint Pliszka. | |
| Im Café Zentral in der Freiheitsstraße direkt bei der Stadtverwaltung ist | |
| am Nachmittag immer Hochbetrieb. Obwohl derzeit in der Ukraine prozentual | |
| gesehen täglich mehr als doppelt so viele Menschen an dem Coronavirus | |
| sterben als in Deutschland, kümmert man sich im täglichen Leben nur wenig | |
| um die 3G-Regelung. Auch das Café Zentral kann man betreten, ohne dem | |
| Personal ein Impfzertifikat oder einen Testnachweis vorlegen zu müssen. | |
| ## Kein Rückhalt in der Bevölkerung | |
| „Ein russischer Angriff auf Charkiw ist möglich, eine russische Besetzung | |
| und Besatzung von Charkiw nicht“, meint die an der Charkiwer Universität | |
| dozierende Politologin und Soziologin Julia Bidenko, die hier vor einem | |
| Heißgetränk an einem Tisch sitzt. Besatzer hätten in Charkiw keinerlei | |
| Rückhalt in der Bevölkerung. Trotz aller Kritik an der Regierung hätten die | |
| Menschen erkannt, dass sie Dinge bekommen hätten, die in Russland nicht | |
| möglich seien. | |
| Als Beispiel führt sie die Dezentralisierung an, die den Menschen mehr | |
| Mitbestimmungsmöglichkeiten einräume. Dadurch habe die Loyalität gegenüber | |
| dem ukrainischen Staat zugenommen. Über 380.000 Binnenflüchtlinge hätten in | |
| Charkiw gelebt. Und deren Erzählungen hätten den Einheimischen deutlich | |
| gemacht, wie unattraktiv der Separatismus sei. | |
| Auch die Toleranz gegenüber nationalen oder sexuellen Minderheiten und die | |
| demokratische Entwicklung habe die Ukraine sehr attraktiv gemacht. Es gebe | |
| nicht viele ehemalige Sowjetrepubliken, wo vor der Wahl wirklich nicht klar | |
| sei, wer gewinnen werde. | |
| Von den 50.000 in Charkiw studierenden Ausländer:innen, so Bidenko, kämen | |
| allein 15.000 aus Indien. „Sollte diesen Student:innen [2][bei einem | |
| russischen Angriff] etwas zustoßen, bekommt Russland mit Indien ein | |
| Problem. Und Indien ist Atommacht.“ | |
| ## Erfolg vor Gericht | |
| Kürzlich habe es einen Streit zwischen den städtischen Behörden und dem | |
| Inlandsgeheimdienst auf der einen Seite sowie den Veranstalter:innen | |
| einer Demonstration unter dem Motto „Charkiw gehört zur Ukraine“ auf der | |
| anderen Seite gegeben. Die Behörden hatten die für den 5. Februar geplante | |
| Kundgebung verbieten wollen, die Veranstalter hatten vor Gericht jedoch | |
| eine Aufhebung dieses Verbots erstritten. „In Russland gibt es so was | |
| nicht, dass sich Nichtregierungsorganisationen vor Gericht gegen Verwaltung | |
| und Geheimdienst durchsetzen“, erklärt Bidenko. | |
| So hatte die Demonstration wie geplant am 5. Februar stattfinden können. | |
| Zwischen 500 und 1.000 Menschen seien dabei gewesen, meint der Charkiwer | |
| Journalist Stanislaw Kibalnik. Weit mehr als 2.000 habe sie gezählt, | |
| berichtet hingegen Julia Bidenko. So unterschiedlich wie die Einschätzung | |
| der Teilnehmer:innenzahl ist auch die Bewertung der Aktion. | |
| Für Bidenko hat die Demonstration am 5. Februar erneut gezeigt, wie | |
| lebendig die Zivilgesellschaft in Charkiw ist. Kibalnik ist der Auffassung, | |
| die geringe Beteiligung an der Demonstration zeige, dass der aktive Teil | |
| der Gesellschaft geschrumpft sei. | |
| „Wir haben ein Vakuum, unter anderem weil die rechten Gruppen immer mehr an | |
| Bedeutung verlieren. Gleichzeitig ist keine Gruppe in der Lage, dieses | |
| Vakuum zu füllen“, sagt Kibalnik. „Und es gibt Positionen, die man besser | |
| nicht öffentlich äußert“, sagt er. Nach wie vor seien ungefähr 15 Prozent | |
| der Bevölkerung prorussisch eingestellt. Das gehe aus anonymen Umfragen im | |
| Telegram-Kanal hervor. Aber öffentlich würde niemand seine Sympathie zu | |
| Russland bekunden. | |
| ## Zwei Projekte | |
| Gemeinsam mit anderen Aktivst:innen, die alle unterschiedliche politische | |
| Biografien haben, arbeitet Kibalnik an zwei Projekten: der | |
| Internetplattforum assembly.org.ua und Stadtteil-Chats in Telegram-Kanälen. | |
| Bei beiden Projekten geht es um soziale Fragen, Mieten, Ökologie und | |
| Verkehr. | |
| „Mit den Chats wollen wir vor allem Leben in die Stadtteile bringen, die am | |
| meisten benachteiligt sind, wo die Ärmsten der Bevölkerung leben“, so | |
| Kibalnik. „Das heißt, wir wollen ihnen helfen, sich selbst zu organisieren, | |
| ihren Ärger über Missstände, wie schlechte Trottoirs, Umweltprobleme oder | |
| eine nicht funktionierende Müllabfuhr zu artikulieren.“ Sein Credo lautet: | |
| Wirkliche Veränderungen lassen sich nur an der Basis der Gesellschaft | |
| erreichen. | |
| 10 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
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