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# taz.de -- Menschen fliehen aus der Ukraine: Auf Krieg folgt Flucht
> Die östlichen EU-Staaten rechnen mit über 1,5 Millionen Flüchtlingen aus
> der Ukraine. Deutschland wappnet sich.
Bild: Menschen fliehen aus der Ukraine: Szene von der ungarisch-ukrainischen Gr…
Es dauerte nur rund zwei Stunden, da erschienen nach den ersten Bildern von
der militärischen Attacke auf die Ukraine am Donnerstagmorgen auch erste
Aufnahmen von Flüchtlingskonvois: An einem Grenzübergang zur Slowakei etwa
stauten sich Autos mit Menschen, die vor Russlands Angriff fliehen. Eine
der großen Fragen an diesem Tag lautet: Wie viele werden es noch – und
wohin können sie gehen?
Seit Mai 2017 dürfen die rund 44 Millionen Ukrainer:innen ohne Visum für
90 Tage in die EU einreisen. Allerdings brauchen sie dazu einen
biometrischen Pass. Seit dessen Einführung 2015 wurden jedoch nur rund 19
Millionen dieser Pässe ausgestellt.
Vier EU-Staaten grenzen direkt an die Ukraine: Polen, die Slowakei, Ungarn
und Rumänien. In allen bereitet man sich auf Ankünfte vor. Wegen der
ähnlichen Sprache dürfte Polen für viele Flüchtende erste Wahl sein.
Alle westlichen Nachbarstaaten der Ukraine sind für ihre restriktive
Flüchtlingspolitik bekannt. Statt Flüchtlinge abzuwehren müssen sie sich
auf deren Aufnahme und Versorgung vorbereiten – für die Verwaltungen dort
völliges Neuland. Und die Zahlen, mit denen nun gerechnet wird, gehen im
Verhältnis zur jeweiligen Einwohnerzahl teils deutlich über das hinaus, was
etwa Deutschland 2015/2016 aufgenommen hat.
## Polen errichtet Erstaufnahmestellen
„Wir haben Maßnahmen ergriffen, um auf eine Welle von bis zu einer Million
Menschen vorbereitet zu sein“, sagte Polens stellvertretender Innenminister
Maciej Wąsik vor einigen Tagen dem polnischen Rundfunk.
Der polnische Grenzschutz informierte am Donnerstag auf seiner Website,
dass alle polnisch-ukrainischen Übergänge offen seien, der Verkehr bislang
aber normal sei. Auf Videoaufnahmen von den Grenzübergängen war der Verkehr
ruhig. Doch das dürfte nicht so bleiben.
Das Land, das eigentlich gerade mit Hochdruck an einer
Anti-Flüchtlings-Mauer an der Grenze zu Belarus arbeitet, hat angekündigt,
bis zum Nachmittag neun Aufnahmestellen für Flüchtlinge aus der Ukraine
fertig zu stellen. Sie sollen an den Grenzübergängen Hrebenne, Zosin,
Sławatycze, Dorohusk, Korczowa, Medyka, Budomierz und Krościenkor
entstehen. Dort sollen den Angaben zufolge medizinische Hilfe, Wasser,
Nahrungsmittel verteilt, Ankommende in Quartiere im Landesinnern
weiterverteilt werden.
Doch die gibt es noch gar nicht. Normalerweise werden Flüchtlinge nach
Ankunft in Polen in geschlossene Internierungslager gesperrt. Das dürfte
den Ukrainer:innen erspart bleiben. Die Lager sind ohnehin noch
überfüllt mit den über Belarus eingereisten Schutzsuchenden. „Die
existierende Infrastruktur ist ungeeignet“, sagt der Logistik-Experte
Stefan Lehmeier vom International Rescue Committee.
Die Regierung hatte die Kommunalverwaltungen aufgerufen zu prüfen, wie
viele Übernachtungsplätze sie für Flüchtlinge zur Verfügung stellen
könnten. Der Kommunalverband „Union der polnischen Metropolen“ hat die
Regierung gebeten, die entsprechende Rechtsgrundlage für die Aufnahme von
Flüchtlingen in den Städten zu schaffen. Viele Städte hatten schon früher
angeboten, Flüchtlinge aufzunehmen, das war aber von der Regierung vehement
abgelehnt worden.
## Unterstützung aus Deutschland angekündigt
Polen dürfte nun versuchen, Turn- und Lagerhallen in Flüchtlingsunterkünfte
umzuwandeln, womöglich müssten für die Erstaufnahme auch Zeltlager
errichtet werden. „Wenn man das noch nie gemacht hat, ist es sehr
schwierig, so etwas in großem Maßstab zu koordinieren“, sagt Lehmeier.
„Wenn so ein Prozess chaotisch abläuft, ist es auch schwierig für externe
Akteure wie die EU oder NGOs, sich in den Prozess einzubringen.“ Hilfreich
sein könnte etwa ein Teil der in Polen stationierten US-Soldaten. Deren
Spezialgebiet ist es, schnell Infrastruktur für humanitäre Hilfe
aufzubauen.
Lehmeier rechnet damit, dass die europäische Katastrophenschutz-Agentur DG
Echo, die normalerweise nur Projekte außerhalb der EU finanziert, nun auch
in Polen tätig werden könnte. „Wir werden unsere Nachbarländer – vor all…
Polen – massiv unterstützen, sollte es zu Fluchtbewegungen kommen“, sagte
auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Sie kündigte an, humanitäre
Hilfen dorthin zu liefern. Im Gespräch waren etwa Lieferungen von
Nahrungsmitteln, Trinkwasser oder Notstromaggregaten.
In Polen leben bereits rund 2 Millionen Ukrainer:innen, die meisten kamen
erst nach dem Krimkonflikt 2014 ins Land. Viele dürften nun versuchen,
Verwandte nachzuholen und sie privat unterzubringen.
## Rumänien erwartet bis zu 500.000 Ankünfte
„Wir können ein leicht erhöhtes Verkehrsaufkommen an den Grenzübergängen
zur Ukraine feststellen, wir gehen davon aus, dass es im Laufe des Tages
zunehmen wird“, sagte ein Beamter des slowakischen Innenministeriums der
Agentur Reuters. Die Slowakei sei auch bereit, Menschen einreisen lassen,
die nicht alle erforderlichen Dokumente bei sich haben.
Ungarn hatte in den vergangenen Tagen angekündigt, Militär in die
Grenzregion zu schicken. „Die ungarischen Streitkräfte haben zwei Aufgaben:
zum einen humanitäre Hilfe zu leisten und zum anderen die Grenzen Ungarns
zu schließen und dafür zu sorgen, dass keine bewaffnete Gruppe nach Ungarn
eindringen kann“, sagte der ungarische Verteidigungsminister Tibor Benkő.
Man rechne mit „mehreren Zehntausend“ Flüchtlingen.
Rumänien richte sich auf bis zu 500.000 Flüchtlinge ein, sagte
Verteidigungsminister Vasile Dincu am Dienstag. „Es gibt einen Plan für
alle großen Städte, es gibt Gebiete in Grenznähe, die dafür vorgesehen
sind.“ Nach der Annexion der Krim durch Russland verzeichnete Rumänien
relativ wenige ukrainische Flüchtlinge – auch wegen der sehr
unterschiedlichen Sprache. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl rechnet das Land
mit ebenso vielen Ankommenden wie Polen, hat aber deutlich weniger
Ressourcen für deren Versorgung.
Auch in Deutschland bereite man sich auf ukrainische Geflüchtete vor.
Zahlen dazu seien noch nicht seriös abschätzbar, hieß es aus dem
Innenministerium von Nancy Faeser. Die SPD-Frau erklärte aber, man sei
„intensiv auf alle denkbaren Szenarien vorbereitet“. Doch wie genau, blieb
am Donnerstag unklar.
Bereits am Morgen hatten sich Faeser und die
Landesinnenminister:innen zusammengeschaltet, später tagten Scholz
und Faeser mit dem Sicherheitskabinett, in dem auch Verteidigungsministerin
Christine Lambrecht und Außenministerin Annalena Baerbock sitzen. Nach
taz-Informationen wurde in den Runden besprochen, die visafreie Einreise
von Ukrainer:innen nach Deutschland zu verlängern. Bereits heute können
diese für 90 Tage ohne Visum in den Schengenraum einreisen, sofern sie
biometrische Reisepässe haben.
Würde die Frist tatsächlich verlängert, wären für sie Aufnahmen mit
Asylverfahren nicht nötig. Wenn Ukrainer:innen von der Möglichkeit zur
visafreien Einreise Gebrauch machen und keinen Asylantrag stellen, bekommen
sie keine Sozialleistungen. Diskutiert wurde deshalb auch, geflüchteten
Ukrainer:innen Leistungen nach dem Asylrecht zu gewähren und für sie das
Arbeitsverbot aufzuheben.
## Abschiebungen gestoppt
Zudem stoppten mehrere Bundesländer Rückführungen ausreisepflichtiger
Ukrainer:innen. Entsprechende Anweisungen ergingen an die
Ausländerbehörden, sagte etwa Christian Pegel (SPD), Innenminister von
Mecklenburg-Vorpommern. „Das gilt bis auf Weiteres, auch für bereits
geplante Maßnahmen.“ Laut den jüngsten verfügbaren Zahlen wurden im ersten
Halbjahr 2021 rund 160 Ukrainer*innen aus Deutschland abgeschoben.
Die deutschen Bundesländer wurden zudem aufgerufen,
Unterkunftsmöglichkeiten zu melden. Gerechnet wurde vorerst aber damit,
dass geflüchtete Ukrainer:innen zunächst hiesige Verwandte oder Bekannte
aufsuchen könnten. Laut Statistischem Bundesamt leben bereits heute 331.000
Ukrainer:innen in Deutschland. Mehr als die Hälfte von ihnen haben die
deutsche Staatsangehörigkeit, die andere Hälfte hat einen ukrainischen
Pass.
Um zu ihnen zu gelangen, müssten Ukrainer:innen aber erstmal nach
Deutschland kommen. Am Donnerstag war die deutsche Botschaft in Kiew
bereits geschlossen, die Straßen Richtung Grenzen waren teils überfüllt und
blockiert. Organisierte Transporte seien derzeit nicht möglich, räumte auch
Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock ein. Zumindest für deutsche
Staatsbürger leisteten die Botschaften in Polen, Ungarn, Moldau und der
Slowakei Hilfen ab den jeweiligen Grenzen.
Zivilgesellschaftliche Gruppen wie Pro Asyl oder Campact riefen dazu auf,
auch in Deutschland ukrainische Geflüchtete großzügig aufzunehmen. „Die
Europäische Union muss ihre Grenzen nach Osten öffnen und ihre Zäune, vor
allem in Polen und Ungarn, abbauen“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer
von Pro Asyl, der taz. Für Geflüchtete aus der Ukraine brauche es „schnelle
und unbürokratische Hilfen“, auch Deutschland müsse sich zu Aufnahmen
verpflichten.
Burkhardt appellierte zudem, auch Geflüchtete aus anderen Krisenregionen
wie Afghanistan, die sich momentan in der Ukraine oder Belarus befänden,
nicht zu vergessen. „Auch für sie braucht es jetzt eine Lösung und konkrete
Hilfen. Wir brauchen in Osteuropa eine Rückkehr zur Einhaltung von
Menschenrechten und Europarecht.“
Die Linken-Abgeordnete Clara Bünger fordert die EU auf, die Passpflicht für
Ukrainer:innen aufzuheben. „Die Einreise muss mit einem Ausweis möglich
sein. Sonst kann die Hälfte der Bevölkerung das Land nicht verlassen.“
Deutschland müsse die Begrenzung der Aufenthaltsdauer auf 90 Tage aufheben.
## Riesiges inländisches Flüchtlingsproblem
Was völlig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet: Die Ukraine hat
bereits seit dem Krimkonflikt 2014 ein enormes inländisches
Flüchtlingsproblem. Rund 734.000 Menschen zählt der UN-Flüchtlingswerk
UNHCR als Binnenvertriebene, also im Land zur Flucht Gezwungene. Weitere
1,62 Millionen gelten dem UNHCR zufolge als vom Konflikt betroffen.
Die meisten befinden sich nach UNHCR-Angaben nahe der „Kontaktlinie“
genannten Frontlinie im Donbass. Dort wurden sie bislang von
internationalen Hilfsorganisationen unterstützt. Ob das angesichts der
Kämpfe weiter möglich bleibt, ist offen. „Wir bleiben im Land,“ versichert
UNHCR-Sprecher Chris Melzer. Die Organisation habe Hilfsmaßnahmen und
Kapazitäten in der Ukraine und den Nachbarländern verstärkt.
Auch die Diakonie Katastrophenhilfe, die seit Beginn des Konflikts im Osten
des Landes viele Jahre in der Ukraine aktiv war, stellt sich auf eine
Zunahme des Hilfsbedarfs ein. „Der Krieg trifft eine ohnehin notleidende
und schwer traumatisierte Bevölkerung“, sagt Martin Keßler, Leiter der
Diakonie Katastrophenhilfe. Selbst ohne die aktuelle Eskalation benötigen
fast drei Millionen Menschen in der Ukraine humanitäre Hilfe. Die Diakonie
Katastrophenhilfe rechnet damit, dass diese Zahl in den kommenden Tagen und
Wochen massiv steigen wird. „Sobald klarer wird, wohin die Menschen in
ihrer Not fliehen, werden wir mit unseren Partnern alles tun, um ihr
Überleben zu sichern.“
Mitarbeit: Gabriele Lesser
24 Feb 2022
## AUTOREN
Christian Jakob
Konrad Litschko
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