# taz.de -- Russischer Angriff auf Ukraine: Kiew unter Schock | |
> Am Bahnhof versuchen Menschen verzweifelt, ein Ticket Richtung Westen zu | |
> bekommen. Vor den Banken sind lange Schlangen. Eindrücke aus Kiew. | |
Bild: Polizisten inspizieren die Überreste einer russischen Rakete in Kiew, 24… | |
Kiew taz | Jeden Morgen um drei Uhr höre ich in meiner Kiewer Wohnung das | |
gleichmäßige Rattern von Güterwaggons auf den Gleisen. Auch in der Nacht zu | |
Donnerstag rumort es. Doch es hört sich irgendwie anders an – so als ob | |
Geschosse einschlügen. Aber der Donbass ist ja noch weit, denke ich, es | |
kann also nichts Kriegerisches sein. Und so mache mich auf in Richtung | |
Sportplatz, um meine morgendlichen Runden zu laufen. | |
Dort treffe ich um sechs Uhr den Aserbaidschaner Alik, der hier ebenfalls | |
wie fast jeden Tag seinen Frühsport macht. An diesem Morgen begrüßt er mich | |
mit einem lapidaren „Es ist Krieg“. Ja, er könne mir erklären, was dieses | |
Donnern zu bedeuten habe, sagt er. Er habe gerade mit seinen Bekannten in | |
Borispol, da wo der Kiewer Flughafen liegt, gesprochen. Und da werde | |
geschossen. | |
Er ist geschockt, wundert sich, dass wir heute die Einzigen sind auf dem | |
Sportplatz. Während des Laufs, es ist noch dunkel, zischt etwas 20 Meter | |
über meinen Kopf hinweg. Ich bin kein Spezialist für Flugobjekte. Aber das, | |
was da vorbeizischt, ist viel schneller als ein Flugzeug. | |
Irgendwann verschwindet Alik, er fürchte sich vor einer Erkältung, wenn er | |
zu lange an diesem kalten Morgen laufe, wie er sagt. „Mensch, Alik, sei | |
doch ehrlich“, denke ich bei mir, „du willst einfach nicht von einer Rakete | |
getroffen werden.“ | |
## Riesige Schlangen vor Bankautomaten | |
Geld könnte ich jetzt gut gebrauchen, überlege ich und mache mich auf die | |
Suche nach einem Bankautomaten. Schon von der Ferne sehe ich eine riesige | |
Schlange vor dem Gerät. Alle stehen sie schweigend vor dem Bankautomaten | |
und starren mit versteinerten Mienen auf ihre Handys. Die Bilder, die sie | |
auf ihren Smartphones sehen, sind immer die gleichen: Explosionen, Rauch | |
und Panzer. | |
„In Kiew herrscht keine Panik“, heißt es im Fernsehen, aber Staus an den | |
Ausfahrtstraßen der Stadt und Schlangen vor Bankautomaten und Bäckereien | |
sind doch Ausdruck von Panik, oder nicht. Dann erreicht mich ein Anruf aus | |
Odessa. Auch bei ihnen werde geschossen, berichtet der Tierschützer | |
Alexander Titartschuk. „Könnt ihr nicht die Hunde und Katzen, die wir in | |
den Tierheimen betreuen, nach Deutschland evakuieren?“, fragt er. | |
Wenig später ist der Journalist Stanislaw Kibalnik aus der ostukrainischen | |
Millionenstadt [1][Charkiw] am Telefon. „In Charkiw herrscht keine Panik | |
und wir haben keine verstopften Straßen. Wir werden evakuierte Kinder aus | |
Schastje aufnehmen. Im Norden der Stadt wurde ein Militärteil beschossen“, | |
berichtet Kibalnik | |
Insgesamt sei es in Charkiw ruhiger als in Kiew, sagt er. Da ist es noch | |
früh am Morgen. Wenige Stunden später erhalte ich Fotos von Menschen, die | |
unten in der U-Bahn von Charkiw kauern. | |
Auch am Kiewer Bahnhof donnert es. Verwirrt und fassungslos schauen | |
Menschen, die sich mit ihren Koffern auf den Weg zum Gleis machen, in den | |
grauen Himmel. Zu sehen ist nichts. | |
Am Eingang stehen mehrere Polizisten mit Kalaschnikows in den Händen. Das | |
wirkt martialisch. Der Bahnhof ist übervoll, riesige Menschenschlangen | |
stehen vor den Schaltern. Nur eines gibt es nicht: Tickets nach Deutschland | |
und Polen. | |
Die Stimme der Ansagerin am Bahnhof ist schon in einer höheren Tonlage | |
angekommen. Die Dame wiederholt immer wieder dasselbe. Züge seien verspätet | |
oder ganz ausgefallen. Immer wieder antworten Fahrgäste auf die Frage | |
„Wohin?“, „Geben Sie mir bitte eine Fahrkarte irgendwohin, in den Westen | |
der Ukraine, Lwiw oder in eine andere Stadt dort.“ | |
„Wie, es gibt keine Tickets nach Deutschland“, spricht mich eine Frau in | |
der Schlange, die etwas hinter mir steht, in deutscher Sprache an. Sie hat | |
beobachtet, dass ich eine Fahrkarte nach Deutschland oder Polen kaufen will | |
und gesehen, dass ich keine erhalten habe. Enttäuscht wendet sie sich ab | |
und verlässt die Menschenschlange. | |
„Die Panzer werden auch nach Kiew kommen“ | |
Ein ähnliches Bild bietet sich am Busbahnhof. So voll wie heute ist der | |
noch nie gewesen. Und bei jeder Busfahrt nach Deutschland hatte ich sonst | |
immer zwei Plätze für mich allein, weil die Busse normalerweise immer nur | |
zur Hälfte ausverkauft sind. Doch nun ist es ganz anders, Normalität war | |
gestern. | |
Schluchzende Frauen bedrängen die Fahrer. „Zuerst dürfen die rein, die eine | |
Fahrkarte haben“, versucht sich der Fahrer des Ansturms der Frauen, die | |
offensichtlich keine Tickets gelöst haben, zu erwehren. Ausgerechnet heute | |
sind die Kioske, die mit „Internationale Busverbindungen“ werben, | |
geschlossen. Eine Frau klopft ans Fenster. „Sie sehen doch, dass dieses | |
Büro heute nicht besetzt ist“, raunt ihr ein Mann zu. | |
Auf dem Rückweg komme ich wieder an Bankautomaten vorbei. Überall lange | |
Schlangen. Dann entdecke ich einen, an dem nur drei Menschen stehen. Ich | |
gehe ein Stück näher heran und verstehe, warum die Menschen diesen | |
Automaten meiden. Er befindet sich nämlich vor einer Kaserne. Da bisher | |
fast nur militärische Ziele beschossen worden sind, meiden die Menschen | |
diese Orte. | |
Da klingelt wieder das Telefon. Taisja Garadnitschewa aus [2][Konotop], | |
einem Dorf eineinhalb Autostunden von der russischen Grenze entfernt, | |
berichtet, dass die russischen Panzer schon in der Ortschaft Buryn bei | |
Konotop seien – und die Ukrainer keinen Widerstand leisten würden. Ihre | |
Bekannten hätten die Panzer gefilmt. | |
Und die Panzer werden wohl auch nach Kiew kommen. Dann schaue ich mal, dass | |
ich wegkomme. Von einem Kollegen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung | |
erfahre ich, dass eine französische Journalistin in der Nähe des Flughafens | |
Boryspil festsitzt. Sie sei eingekesselt, meint er. Da sei geschossen | |
worden, deswegen habe die ukrainische Armee alles abgeriegelt. Am Abend | |
klingelt es an der Tür, davor steht eine Frau, mit einem Koffer in der | |
Hand. Ich dachte, sagt sie, hier wäre der Schutzraum. Nein, sage ich, das | |
ist die andere Tür. Sie bedankt sich freundlich und geht durch die Nebentür | |
und von dort die Kellertreppe hinunter. | |
24 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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