# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Ans Eingemachte | |
> Wohl dem, der Vorräte hat, denn der Ausnahmezustand gilt weiter. Die | |
> Angst vor Plünderungen wächst. Aktuelle Eindrücke aus der Ukraine. | |
Bild: Das Ziel: bloß weg. Menschen mit Gepäck auf dem Weg zum Kiewer Bahnhof … | |
KIEW taz | Sonntagmorgen. Die Nacht [1][in Kiew] war ruhig. So ruhig, dass | |
ich sogar verschlafen habe. Seit Samstagabend gilt der Ausnahmezustand, und | |
das bis Montag morgen. Ich höre mir die Rede von Präsident Wolodimir | |
Selenski an. Er sagt, dass er bereit sei, sich mit den Russen zu | |
Friedensgesprächen zu treffen. Aber nicht in einem Land, von dem aus | |
Raketen auf die Ukraine abgeschossen würden. Er macht einen sehr | |
authentischen Eindruck. | |
Aus [2][der zweitgrößten Stadt Charkiw] gibt es beunruhigende Nachrichten. | |
Der Journalist Stanislaw Kibalnik berichtet mir: „Gegen 7 Uhr morgens sind | |
rund 400 russische Saboteure in Tiger-Jeeps und Lastwagen aus Aleksejewka | |
und Saltowka in Charkiw eingedrungen. Einige sind ins Zentrum vorgestoßen, | |
andere in die Schlafstädte. Doch sie wurden neutralisiert und einige | |
gefangenen genommen. Das waren alles junge Kerle. Auch Leichen sieht man, | |
aber nur wenige.“ | |
Ich erreiche auch Juri Larin, ebenfalls Journalist in Charkiw. „Am | |
Sonntagmorgen sind mehrere Sabotagegruppen mit gepanzerten Fahrzeugen in | |
Charkiw eingedrungen. Den ganzen Tag über kommt es zu Straßenkämpfen | |
zwischen den Saboteuren und den Verteidigern von Charkiw. Kurz nach ihrem | |
Eindringen in die Stadt wurden einige der Saboteure liquidiert, einige | |
haben sich ergeben, andere Zivilkleidung angezogen und versucht zu fliehen. | |
Sie haben eine Schule in der Schewtschenko-Straße eingenommen. Nun | |
versuchen unsere, sie zu vertreiben. | |
Die Besatzer schießen auch auf Zivilisten. Unweit des onkologischen | |
Krankenhauses hat es eingeschlagen, Fenster sind zu Bruch gegangen. In der | |
Buchma-Straße (Nordsaltiwka) wurde ein neunstöckiges Wohnhaus durch den | |
Raketenbeschuss erheblich beschädigt. Es gibt viele verlassene oder | |
ausgebrannte russische Fahrzeuge auf den Straßen. Viele suchen Schutz in | |
Luftschutzräumen“, so Larin. | |
## Fliehen oder nicht | |
„Russland wird weiter gehen, sobald die Stimme der Ukraine zum Schweigen | |
gebracht wird. Sobald Putin die Ukraine überrannt hat, wird er auch hier | |
Raketen stationieren. So wie in Belarus. Und dann müsst ihr noch viel mehr | |
bezahlen für eure Ergebenheit.“ | |
Ich fange an, meine Telefonnummern in mein Notizbuch einzutragen. Dann habe | |
ich sie, wenn der Akku tot ist. Ich glaube, am Montag fliehe ich. Oder | |
nicht. Und wenn doch, dann vielleicht nur in ein Dorf in der Nähe. Von | |
Minute zu Minute denke ich anders. Aber eines weiß ich: Ich habe einige | |
Dinge falsch eingeschätzt. | |
Meine Mitbewohnerin ist eine 75-jährige Frau. Sie, Nadja, hortet gerne | |
Lebensmittel. An den Sonntagen ging sie immer in mehrere Kirchen, um sich | |
humanitäre Hilfspakete für Binnenflüchtlinge – sie ist aus der Gegend von | |
Donezk geflohen – zu holen. Dann kam sie mit Tragetaschen voller Nudeln, | |
Mehl und Sonnenblumenöl zurück. | |
„Unsere Wohnung ist keine Lagerhalle“, habe ich geschimpft. „Da ist doch | |
ungemütlich, zwischen Nudeltüten und Mehlpackungen zu leben.“ Wenn ich | |
besonders wütend war, habe ich ihr gesagt: „Nadja, Sie leben ja so, als | |
käme morgen Krieg.“ Dann hat sie immer betreten geschwiegen, zog am | |
nächsten Sonntag aber doch wieder los. | |
## Äpfel, Birnen und Gemüse | |
Jeden Sommer hat sie Äpfel, Birnen und Gemüse für den Winter eingeweckt. | |
Und ich habe mich immer gefragt, wer um Gottes willen das alles jemals | |
essen soll. Jetzt, wo sich die Regale in den Lebensmittelgeschäften leeren, | |
bin ich froh, dass ich mit so jemandem zusammenlebe. | |
Nadja ist der einzige Mensch, den ich in den vergangenen Tagen gesehen | |
habe, der noch weinen kann. Sie kann bei jeder Explosion sagen, welche | |
Geschosse das sind und wie weit sie noch weg sind. „In meiner Heimatstadt | |
Jenakiewo bei Donezk bin ich sehr oft beschossen worden.“ Sie ist herzkrank | |
und hatte schon drei Infarkte. Alle wissen es, aber keiner sagt es: Wenn | |
sie jetzt ein Problem mit dem Herzen bekäme, würde wird ihr niemand helfen. | |
Die Angst vor Plünderern geht um. Jetzt, wo sich jeder ganz offiziell | |
kostenlos ein Gewehr holen kann, ist die Furcht groß, dass sich diese | |
Waffen auch mal auf einfache Bürgerinnen richten könnten. Aus den | |
Gefängnissen sind Schwerverbrecher entlassen worden. Vielleicht sollte ich | |
mich weniger vor der Wohnung zeigen. Ist vielleicht besser, wenn Nadja, die | |
unscheinbare Rentnerin, zum Einkaufen geht. | |
Mein Nachbar Alik ruft an. Er ist gerade in einem Dorf in der Nähe. „Guck | |
doch mal nach, ob in meiner Wohnung noch alles in Ordnung ist.“ Heldenhaft | |
verlasse ich das Haus, was ja jetzt verboten ist, schalte auf Whatsapp | |
meine Kamera ein. Dann gehe ich die 50 Meter zu seinem Haus und filme für | |
ihn Fenster und Wohnungstür. Er ist froh, dass noch alles so aussieht, wie | |
er es verlassen hat. Ich bin nicht der Einzige, der sich aus dem Haus wagt. | |
Am Nachbarhaus stehen zwei Raucher vor der Tür, sie gehen sogar ein paar | |
Schritte auf und ab. | |
## 20 Kilometer zu Fuß | |
Meine Bekannte Olga Garadnitschewa ruft an. Sie ist jetzt an der | |
ukrainisch-polnischen Grenze. Auf der polnischen Seite. Die letzten 20 | |
Kilometer sei sie zu Fuß gegangen und schneller gewesen als die Autos. An | |
der Grenze sei ein riesiger Andrang. Sie habe Leute getroffen, die schon | |
drei Tage auf einen Übertritt warteten. | |
Werden Russen und Ukrainer doch noch miteinander reden? Am Abend kommen | |
neue Nachrichten. Eine ukrainische Delegation werde sich auf den Weg nach | |
Belarus zu Verhandlungen machen, allerdings ohne Selenski. Die Zeitung | |
„Dserkalo Tyschnja“ berichtet, der prorussische Politiker und Putin-Freund | |
Wiktor Medwdetschuk habe sein Haus verlassen. Seltsam, er steht doch unter | |
Hausarrest. Das hat etwas zu bedeuten. Aber was? | |
27 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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