# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Kampfmodus statt Emotionen | |
> In der Hauptstadt Kiew wird gekämpft. Russische Truppen beschießen auch | |
> Wohnhäuser. Ein Blitzkrieg werde es wohl nicht, sagen Anwohner. | |
Bild: 27. Februar: Menschen in einer zum Luftschutzbunker umfunktionierten Hote… | |
Kiew taz | Beide heißen sie Nadja und sehen sich an diesem Abend einen | |
Schutzraum am Stadtrand von Kiew an. Die eine ist 75, die andere 30 Jahre | |
alt. Die Jüngere hat noch nie zuvor einen Schutzraum betreten. Sie lacht: | |
„Es ist natürlich nicht schön, in so einem Raum sitzen zu müssen, aber ich | |
glaube, da hat sich Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem Feldzug | |
ganz schön verrechnet. Wird wohl doch [1][kein Blitzkrieg für die Russen] | |
werden. Wir werden siegen,“ sagt sie in kämpferischem Ton. Die ältere Frau | |
sagt gar nichts, schwitzt nur leicht und zittert. „Vielleicht hat sich in | |
ein paar Tagen auch alles wieder beruhigt“ sagt die junge Nadja. Beim | |
Verlassen des Kellers lächelt sie. | |
Die ältere Frau bleibt alleine zurück. „Ich weiß, was Krieg ist. Ich komme | |
aus Donezk. Ich weiß, was es heißt, in einem Keller zu sitzen, wenn draußen | |
geschossen wird. Ich weiß noch mehr. Wie ein Keller aussieht, wenn er | |
seitlich und von oben beschossen wird.“ Diese Frau, mit der sie gerade im | |
Keller war, habe eben noch nie einen Krieg erlebt. Sonst würde sie nicht so | |
oberflächlich reden, sagt die ältere Nadja und weint. „Ich weiß, was es | |
heißt, in einem Keller eingesperrt zu sein, wenn sich die Decke langsam | |
nach unten senkt und du kannst rein gar nichts machen.“ Sie kann sich auch | |
an Männer erinnern, die auf den Straßen lagen – mit abgetrennten Beinen. | |
Sie weint und sagt nichts mehr. | |
Morgens um 6 Uhr fährt mein Nachbar Alik durch die Stadt. Eigentlich gilt | |
noch Ausgangssperre bis 7 Uhr. „Ich war an der U-Bahn Station Schuljavki. | |
Dort wird gekämpft. Unsere haben viele Russen umgebracht. Alles schrecklich | |
hier.“ | |
Unterdessen ist auf Videos zu sehen, dass die Russen auch Wohnhäuser | |
beschießen. Tausende von Zivilisten erhalten Waffen, man bereitet sich auf | |
blutige Straßenkämpfe vor. „Ja“ sagt mein Nachbar Alik, der Aserbaidschan… | |
ist und einen ukrainischen Pass hat, „meinem Kollegen haben sie die Wohnung | |
kaputt geschossen, hier am Sewastopol-Platz.“ | |
## Wenig Emotionen | |
Es gibt Dinge in mir, die ich nicht erwartet hätte. Vielleicht war das die | |
gefährlichste Nacht in meinem Leben, es hat geknallt und gedonnert. Aber | |
gleichzeitig habe ich wenig Emotionen. Eine Freundin aus Deutschland will | |
wissen, ob ich mich geborgen fühle. Ich konnte sie nicht verstehen, was | |
nicht an der Sprache lag. | |
In dieser Situation steht mir nicht der Sinn nach „Geborgenheit“. Ich fühle | |
mich in einem Kampfmodus. Schon seit Tagen steht eine Flasche Wein, die ich | |
mir für alle Fälle gekauft habe, ungeöffnet im Regal. Ich habe keine Lust, | |
dieses Gefühl von höchster Wachsamkeit zu verlieren. | |
Die Kommunikation mit Freunden und Verwandten im deutschen Ausland (ja, so | |
kommt mir jetzt meine Heimat vor) fällt schwer. Teilweise haben sie Tränen | |
in den Augen. Glücklich die, die noch weinen können. Ich besitze gute | |
Verdrängungsmechanismen. | |
Angenommen, heute Nacht kommen 40 Menschen in Kiew ums Leben, heißt das | |
doch, dass bei vier Millionen Bewohnern die Möglichkeit zu sterben bei 1: | |
100.000 liegt. Nein, mich wird es nicht treffen, da bin ich mir sicher. | |
Schon rein rechnerisch kann das doch gar nicht passieren, rede ich mir ein. | |
## 2014 in Donezk | |
Überhaupt Kommunikation. Ich erinnere mich an einen Aufenthalt in Jenakiewo | |
bei Donezk. Das war 2014. Allen war klar, dass in wenigen Tagen Krieg sein | |
würde. Ich war in die Stadt gefahren, um eine Reportage zu schreiben. Mein | |
erster Anlaufpunkt war ein Schnellimbiss. Irgendwo muss man ja Leute | |
treffen, die man zitieren kann. | |
Ich öffnete die Tür, vor mir sechs Tische. An jedem Tisch saß ein Mann, in | |
der linken Hand ein Bier, ein Finger der rechten Hand auf dem Smartphone. | |
Sie wirkten unbeweglich, so wie in einem Wachsfigurenkabinett. Sie schauten | |
nicht einmal auf, als ich hereinkam. | |
Dafür war die Verkäuferin umso lebendiger. Sie sah mich mit riesigen, vor | |
Angst geweiteten Augen an, nachdem ich sie gefragt hatte, wie ich denn von | |
hier am besten nach Gorlowka käme. Diese Augen, diesen Blick werde ich | |
nicht mehr vergessen. Und ich hatte eins verstanden: In einer Gruppe igeln | |
sich die Menschen in so einer Situation ein, nur im Gespräch unter vier | |
Augen geben sie etwas von ihren Gefühlen preis. | |
So ist es auch in diesen Tagen in Kiew. Niemand spricht über seine | |
Befindlichkeiten, alle versuchen die Ereignisse einzuordnen oder sprechen | |
über andere Themen. Wie vor einem Sturm lassen alle die Rollläden hinunter. | |
Nur im Gespräch unter vier Augen erfahre ich manchmal, was los ist – und | |
das auch allermeistens nur von Frauen. Jetzt bin auch ich so geworden, | |
fühle mich genervt, wenn mich meine Bekannte fragt, ob ich mich „geborgen“ | |
fühle. | |
Die stellvertretende Umweltministerin Iryna Stavchuk berichtet, die | |
ukrainische Flugabwehr habe den Beschuss des Wasserkraftwerks von Kiew | |
verhindert. Irgendwie hat so eine Luftabwehr doch ihre Vorteile – vor | |
allem, wenn dein Leben davon abhängt. | |
Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko hat eine Ausgangssperre von 17 | |
Uhr bis acht Uhr morgens verfügt. Schnell drehe ich mit einem Fahrrad noch | |
ein paar Runden und fahre dann zum Sewastopol-Platz. 58 Verletzte gebe es | |
in der Stadt Mariupol, teilt deren Bürgermeister Vadim Boitschenko in einer | |
Ansprache mit. Und mein Vermieter sagt, dass es in seinem Vorort von Kiew | |
schon seit einem Tag keinen Strom mehr gebe. | |
26 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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