# taz.de -- Belarus vor dem Verfassungsreferendum: Was hat Putin mit Belarus vo… | |
> Auch aus Belarus sind russische Truppen in die Ukraine einmarschiert. | |
> Derweil ist die schleichende Annexion des Landes durch Russland in vollem | |
> Gange. | |
Bild: Präsident Alexander Lukaschenko am 17. Februar während der Manöver mit… | |
1 Im Rahmen von Russlands Großoffensive gegen die Ukraine sind russische | |
Truppen in der Nacht zu Donnerstag auch von Belarus aus in das Nachbarland | |
einmarschiert. Warum stehen russische Militäreinheiten derzeit in Belarus? | |
Unter dem Namen „Gemeinsame Entschlossenheit der Bündnispartner 2022“ läu… | |
seit dem 10. Februar [1][ein Manöver, für das rund 30.000 russische | |
Soldaten nach Belarus eingerückt sind], darunter auch in die im Grenzgebiet | |
zur Ukraine gelegene Region Brest. Die gemeinsamen Militärübungen sollten | |
eigentlich am 20. Februar beendet sein, wurden dann aber auf unbestimmte | |
Zeit verlängert. Offiziell begründet wurde dies mit zunehmenden | |
militärischen Aktivitäten an den Grenzen zu Belarus und Russland sowie der | |
Eskalation der Lage im Osten der Ukraine. | |
2 Laut Angaben des ukrainischen Grenzschutzes sollen an dem Einmarsch auch | |
belarussische Militäreinheiten beteiligt sein. Der belarussische Präsident | |
Alexander Lukaschenko hat diese Information jedoch dementiert. Ist das | |
glaubwürdig? | |
Obwohl das nicht überprüfbar ist, eher nicht. Lukaschenko steht stramm an | |
Putins Seite. Am Dienstag dieser Woche und damit einen Tag vor Putins | |
Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk als unabhängige | |
Staaten forderte Lukaschenko Kiew auf, die Konfrontation mit Russland zu | |
beenden. Im vergangenen November hatte er nach jahrelangem Zaudern die 2014 | |
von Moskau völkerrechtswidrig annektierte Krim als „russisch“ anerkannt. | |
3 Lukaschenko hat sich als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine | |
angeboten. Was steckt dahinter? | |
2014/15 war der Autokrat in Minsk bereits Gastgeber für Verhandlungen, die | |
zum Abschluss zweier gleichnamiger Friedensabkommen für die Ostukraine | |
führten. Damals ging es ihm vor allem darum, seine Rolle eines Parias auf | |
internationaler Bühne gegen die eines Vermittlers zwischen West und Ost zu | |
tauschen. Damit verbunden war auch die Hoffnung, von dem Flirt mit der EU | |
finanziell zu profitieren. Heute scheint der Adressat dieser Offerte vor | |
allem auch die eigene Bevölkerung zu sein. Die gefälschte Präsidentenwahl | |
am 9. August 2020 und wochenlange Massenproteste, die Lukaschenko brutal | |
niederschlagen ließ, haben sein Ansehen in der Bevölkerung stark | |
beschädigt. Da bringt ein Auftritt als Vermittler vielleicht eine | |
Dividende. | |
4 Am Sonntag findet in Belarus ein Referendum statt, das schon seit | |
Längerem angekündigt ist. Was ist der Hintergrund dieser Volksabstimmung? | |
Auch diese Veranstaltung ist letztendlich eine Reaktion auf die Ereignisse | |
von 2020. Das Referendum soll den Belaruss*innen signalisieren, | |
Lukaschenko komme dem weit verbreiteten Wunsch nach Veränderungen in der | |
Gesellschaft nach, ohne jedoch Neuwahlen anzusetzen. Diese sind immer noch | |
eine zentrale Forderung der Opposition. Was mittlerweile vielfach nur noch | |
eine Randnotiz ist: Massive Repressionen gegen die Zivilgesellschaft gehen | |
unvermindert weiter. Aktuell führt die Menschenrechtsorganisaton Viasna | |
(Frühling) 1.078 Personen als politische Gefangene (Stand: 24. Februar | |
2022). | |
5 Worum geht es bei dem Referendum genau? | |
Zur Abstimmung stehen unter anderem zentrale Änderungen der Verfassung, die | |
sowohl den Posten des Präsidenten als auch weitere Verfassungsorgane | |
betreffen. Demnach bleibt das Staatsoberhaupt weiterhin die zentrale | |
Institution des Staates, doch wird seine Amtszeit auf zweimal fünf Jahre | |
beschränkt. Diese Regelung greift jedoch erst nach dem Referendum. Eine | |
massive Aufwertung erfährt die All-Belarussische Volksvertretung (BNS), die | |
bislang in der Verfassung überhaupt nicht vorkommt. Sie soll zur „höchsten | |
Form der Volksvertretung“ werden. In der BNS sitzen 1.200 Personen, die | |
nicht gewählt werden, sondern aus dem Parlament, den Kommunen sowie | |
gesellschaftlichen Organisationen entsandt werden. Ein amtierendes | |
Staatsoberhaupt ist automatisch Mitglied der BNS und kann durch deren | |
Mitglieder zum Vorsitzenden gewählt werden. | |
6 Ist auch die belarussische Außenpolitik von den geplanten | |
Verfassungsänderungen betroffen? | |
In der Tat. So sollen die strategische Ausrichtung auf einen neutralen | |
Status sowie die Atomwaffenfreiheit des Staatsgebietes ersatzlos gestrichen | |
werden. Letztere geht auf das Budapester Memorandum aus dem Jahr 1994 | |
zurück. Darin verpflichten sich Russland, die USA und Großbritannien | |
gegenüber Belarus, Kasachstan und der Ukraine, als Gegenleistung für einen | |
Nuklearwaffenverzicht die Souveränität sowie die bestehenden Grenzen dieser | |
Länder zu achten. Wie gut das geklappt hat, zeigte sich bereits 2014, als | |
Moskau die ukrainische Halbinsel Krim annektierte. Warum sollte sich jetzt | |
ausgerechnet Belarus an das Memorandum gebunden fühlen? Der belarussische | |
Präsident Lukaschenko hat Putin übrigens unlängst angeboten, russische | |
Atomwaffen bei sich zu stationieren, sollte die Nato ihre östlichen | |
Mitgliedsstaaten weiter aufrüsten. Und die Aufhebung des | |
Neutralitätsstatus macht künftig auch die Teilnahme an Militäroperationen | |
im Ausland möglich. Noch 2019 hatte Lukaschenko einen Einsatz | |
belarussischer Truppen in Syrien mit Verweis auf die Verfassung abgelehnt. | |
7 Wie bewerten Expert*innen diese Volksabstimmung? | |
Die meisten sind der Ansicht, dass das Referendum im Hinblick auf | |
Lukaschenko [2][eine Mogelpackung] ist. Der könnte einerseits bei den | |
nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 erneut antreten und dann den | |
Belaruss*innen auch noch für zwei weitere Amtsperioden erhalten bleiben. | |
Oder er wird versuchen, an den Posten des BNS-Vorsitzenden zu kommen. In | |
diesem Fall würde der oder die Nachfolger*in im Amt des Präsidenten | |
unter verschärfter Kontrolle stehen – nicht nur vonseiten der BNS, sondern | |
auch von deren Chef. Aber ein Verzicht Lukaschenkos auf das Präsidentenamt | |
zeichnet sich derzeit nicht ab. | |
Erst kürzlich kündigte er an, so lange Präsident zu bleiben, wie es die | |
äußeren Umstände erforderten. Zudem hat Lukaschenko wohl auch den Fall | |
Kasachstan als abschreckendes Beispiel vor Augen. Der langjährige Präsident | |
Nursultan Nasarbajew war 2019 zurückgetreten, hatte mit Kassim-Schomart | |
Tokajew einen Nachfolger installiert, jedoch wichtige Posten und damit | |
seinen Einfluss auf die Politik behalten. Im Januar 2022, nach landesweiten | |
Protesten mit über 100 Toten, sägte Tokajew Nasarbajew kurzerhand ab. Das | |
Modell eines geordneten Machttransfers, das auch als „Tandemokratie“ | |
bezeichnet wird, war gescheitert. | |
8 Lukaschenko for ever – ist das der Grund, warum die Opposition die | |
Belaruss*innen dazu aufgerufen hat, die Stimmzettel ungültig zu machen, | |
indem sie sowohl Ja als auch Nein ankreuzen? | |
Nicht nur. Wie alle Wahlen und Volksabstimmungen in der 28-jährigen | |
Amtszeit von Alexander Lukaschenko wird auch das bevorstehende Referendum | |
massiven Fälschungen unterliegen. Abgestimmt werden kann bereits seit dem | |
vergangenen Dienstag. In den sozialen Medien berichten Belaruss*innen, dass | |
sie zur Stimmabgabe gedrängt und bei Widerstand mit dem Verlust ihres | |
Arbeitsplatzes bedroht würden. Zudem können Belaruss*innen im Ausland | |
nicht an dem Referendum teilnehmen, da dort keine Wahllokale eingerichtet | |
werden. Die offizielle Begründung dafür lautet: Corona. Allein seit 2020 | |
haben Zehntausende aus Angst vor Repressionen ihrer Heimat den Rücken | |
gekehrt. | |
9 Sind nach dem Referendum erneut Proteste zu erwarten? | |
Das ist eher unwahrscheinlich, vor allem wegen des Angriffs Russlands auf | |
die Ukraine. Die Belaruss*innen fürchten nichts mehr, als in einen | |
Krieg hineingezogen zu werden. Und überhaupt: Der Einsatz von Truppen des | |
Militärbündnisses „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“ | |
unter Führung Moskaus, die Kasachstan bei der Niederschlagung der Proteste | |
im Januar Amtshilfe leisteten, dürfte auch nicht dazu angetan gewesen sein, | |
den Widerstandsgeist der Belaruss*innen zu beflügeln. | |
10 Wie könnte sich Russlands Krieg gegen die Ukraine auf Belarus auswirken? | |
Das ist derzeit schwer zu sagen. Die Frage ist vielmehr, wie lange es | |
Belarus als Staat überhaupt noch geben wird. Denn die schleichende Annexion | |
durch Russland auf der Grundlage des Unionsvertrages von 1999 ist in vollem | |
Gange. Lange Jahre hatte sich Lukaschenko gegen dieses Projekt gewehrt. | |
Doch im vergangenen November unterzeichnete er – innenpolitisch bereits | |
durch die Protestbewegung angezählt und komplett im wirtschaftlichen | |
Klammergriff Moskaus – mit Putin einen Fahrplan zum Zusammenschluss der | |
beiden Staaten inklusive einer gemeinsamen Militärdoktrin. Wann der | |
„Anschluss“ kommt, ist nur noch eine Frage der Zeit. Und dieses Mal wird | |
Putin keine Waffengewalt anwenden müssen. | |
26 Feb 2022 | |
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Barbara Oertel | |
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