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# taz.de -- Experimentelle Wissenschaft: Erpressung oder Kooperation
> Lässt sich Putins Politik theoretisch untermauern? Ergebnisse der
> Spieltheorie auf das sozialpolitische Feld übertragen.
Bild: Erpresser werden häufiger als Repräsentanten gewählt
Mit welcher Kaltschnäuzigkeit bringt Putin zum zweiten Mal den Weltfrieden
in Gefahr? Was ist er für eine Person und woher kommt sein Rückhalt in der
Bevölkerung? Überraschende Antworten gibt seit einiger Zeit die
experimentelle Spieltheorie, die ein bekanntes Theorem grundsätzlich
revidieren musste.
Mehrere Generationen im Westen konnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem
optimistischen Weltbild gelangen. Der Erfolg gewaltfreier sozialer und
politischer Bewegungen begann mit Gandhi. Nach Gandhi kamen die
Flowerpower-Bewegung, die Siege der Frauenbewegung, die friedliche
Wiedervereinigung, der Untergang der Sowjetunion und mehr, sodass vieles
darauf hindeutete, dass die Welt zunehmend friedlicher würde. Diese
Stimmung hat sich aber spätestens seit der Krimkrise und dem
(Wieder-)Erscheinen von mächtigen Autokraten wie Trump, Putin, Erdoğan,
Orbán, Lukaschenko geändert.
Die optimistische Stimmung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts
konnte eine wissenschaftliche Begründung vorweisen, die später als „folk
theorem“ bezeichnet wurde. 1984 hatte der US-Forscher Robert Axelrod mit
einem Computerturnier bewiesen, dass in Dilemmasituationen Kooperation
langfristig vorteilhafter ist als immer auf den eigenen Vorteil bedacht zu
sein, weil durch Kooperation eine Win-win-Situation entsteht. Darauf folgte
bis vor zehn Jahren eine Menge wissenschaftlicher Veröffentlichungen und
Experimente, die dieses Ergebnis bestätigten. Auch Experimente, die die
internationalen Verhandlungen um die Klimakrise in dieser Perspektive
untersuchten, machten Hoffnungen.
Wissenschaftliche Theorien haben auch auf sozialen Gebieten immensen
Fortschritt gebracht. Deshalb bot das Folk-Theorem für viele ein wichtiges
theoretisches Fundament für die Hoffnung auf eine immer friedlichere
Zukunft. Dieses Fundament wurde, bisher leider nur wenig bemerkt, im Jahr
2012 zerschlagen, als ein Aufsatz von William H. Press und Freeman J. Dyson
im Fachmagazin PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the
United States of America) erschien.
## Die Strategien
Dort wurde mathematisch bewiesen, dass es in den von Axelrod und den
Nachfolgern untersuchten Situationen eine weitere Verhaltensweise zwischen
Kooperation und Vorteilsnahme gibt, mit „extortioner“ (Erpresser)
bezeichnet, die langfristig noch vorteilhafter als gegenseitige Kooperation
ist.
Ein Extortioner geht so vor, dass er im Prinzip kooperiert, aber
zwischendurch ab und zu den Partner übers Ohr haut. Weil im Prinzip ja
beide kooperieren und die Vorteile davon genießen, ist es „gegen einen
solchen Spieler langfristig die beste Antwort, die Erpressung zu
akzeptieren“, wie Press und Dyson schreiben. Die einzige Alternative zur
Akzeptanz ist, unter eigenen Verlusten die Kooperation aufzugeben.
Seitdem haben weitere Computerturniere stattgefunden, die nun mit
Extortioner-Strategien arbeiten. Dabei kam unter anderem heraus, dass sich
dieses Verhalten ab einem Anteil von circa 40 Prozent Extortionern in einer
Population nicht mehr lohnt, weil dann zunehmend Extortioner gegen
Extortioner kämpfen. Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Extortioner doch
aussterben werden, weil es am Ende dazu kommt, dass die Gegenspieler ihre
Kooperation mit ihnen komplett abbrechen. Das geschieht aber nur auf sehr
lange Sicht und bei vielen Spielern.
Diese weiteren theoretischen Ergebnisse können aber nicht beruhigen, weil
in realen Situationen oft kleinere Gruppen vor der Kooperationsfrage stehen
und weil in der Realität nur begrenzt viele Verhandlungsrunden möglich
sind. Dann aber sind die Extortioner erfolgreich. Unter verschiedenen
zusätzlichen, aber realistischen Bedingungen, zum Beispiel bei ungleichen
Möglichkeiten, den Spielpartner zu wechseln, oder kleinen Zusatzgewinnen
erwies sich wieder die Extortioner-Strategie auch langfristig als die
dominierende.
## Die Erpresser
Übertragen auf die politische Bühne fühlt man sich sofort an einige solcher
Extortioner-Vorfälle erinnert: die Besetzung der Krim (Russland bleibt
ansonsten friedlich), die Aufkündigung des Klimavertrags durch Trump (die
USA erfüllen sonst alle anderen Verpflichtungen), die Aushebelung einer
unabhängigen Justiz (Polen und Ungarn arbeiten sonst in der EU normal mit)
und, aktuell, Putin führt krieg gegen die Ukraine, liefert aber weiterhin
Gas und bleibt für „Diplomatie“ gesprächsbereit. Diese politischen
Ereignisse geschehen oft auf Anordnung autokratisch regierender Personen
wie Putin, Trump, Orbán, die Extortioner-Strategien anwenden.
Die zunächst rein mathematischen oder durch Computer erzeugten Ergebnisse
werden in der experimentellen Spieltheorie daraufhin überprüft, wie
wirkliche Menschen mit Dilemmasituationen umgehen. Experimente sind es,
weil die Kooperationsprobleme nun statt durch Computersimulationen von
einzelnen Personen oder Gruppen ausgehandelt werden. Mit solchen
Experimenten haben die Forscher Manfred Milinski und Christian Hilbe vom
Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön die theoretischen
Ergebnisse untermauern können.
Zunächst stellte sich heraus, dass bis zu 40 Prozent der Probanden stabil
Extortioner-Strategien anwandten. Das könnte bedeuten, dass man im Alltag
mit einem solchen Verhalten rechnen muss. Vielleicht fragen Sie sich einmal
selbstkritisch, ob Sie nicht auch mal ganz unkooperativ einen kleinen
Vorteil ausgenutzt haben, ohne eine Beziehung zu gefährden?
Ein überraschendes Ergebnis war, dass Extortioner häufiger zu
Repräsentanten gewählt werden als kooperierende Personen, wenn es um die
Vertretung einer Gruppe geht. Das ist bedenklich, weil es bedeutet, dass
Personen wie Trump, Erdoğan, Putin oder Orbán nicht etwa nur gewählt
werden, weil sie die Medien manipulieren, Fake News verbreiten oder
Ähnliches, sondern weil viele Wähler generell dazu neigen, ihren Staat
lieber durch solche Extortioner-Personen vertreten zu lassen.
Wie reale Menschen auf Extortioner-Verhalten reagieren, untersuchte ein
weiteres Experiment. Milinski beschreibt ihre Reaktionen so: „Es ist
absolute Nötigung. Man ist gezwungen, mehr und mehr zu kooperieren, wenn
man irgendeine Chance auf Steigerung des eigenen Gewinns haben möchte.
Viele der Testpersonen kamen extrem frustriert aus dem Experiment und
entwickelten echte Hassfantasien gegen ihren unbekannten Opponenten.
Natürlich wussten sie nicht, dass das ein Computer war.“ Viele stoppten
irgendwann ihre Kooperation gänzlich. Dabei mussten sie natürlich auf ihren
eigenen kleineren Gewinn völlig verzichten, aber konnten wenigstens den
anderen um den größeren Gewinn bringen.
## Schlechte Nachrichten
Dieses Ergebnis bedeutet, dass man einen Extortioner nicht mit Kooperation
beeinflussen kann, denn auf Kooperationsangebote hört er nicht, weil seine
Strategie ihm einfach mehr bringt, was er auch genau weiß. Das Experiment
besagt nun zweitens, dass eine solche Strategie von realen Menschen im
langfristigen Verlauf erkannt und gestoppt wird. Das kann allerdings nur um
den Preis vollkommener Nichtkooperation mit den entsprechenden eigenen
Verlusten geschehen.
Umgesetzt auf reale politische Konflikte sind das schlechte Nachrichten.
Sie begraben nämlich einen gewaltfreien Pazifismus. Mit Extortionern
kooperativ zu verfahren ist sinnlos. Mit ihnen gibt es nur ein Ende mit
Schrecken und eigenen Verlusten, oder wir müssen ihre Nötigungen weiterhin
ertragen.
Bis vor einigen Jahren konnten die Generationen der vor 1970 Geborenen das
Gefühl haben, dass wir die vergangenen 50 Jahre in einem friedlichen
Gemeinwesen gelebt haben, das irgendwie zukunftsweisend sein könnte. Dieses
Gefühl ist in den letzten Jahren einer zunehmenden Verunsicherung gewichen.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse, die ich hier vorgestellt habe, können
das teilweise erklären: Die friedlichen Zeiten unserer Generation waren
eine Ausnahme, die Regel ist und wird sein ein nie endender Kampf gegen
nötigendes Verhalten auf allen Ebenen. Putin macht es uns gerade wieder
vor. Das sind düstere Aussichten!
25 Feb 2022
## AUTOREN
Volker Müller-Benedict
## TAGS
Wissenschaft
Wladimir Putin
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