| # taz.de -- Russland und die Nato: Ruhe an der Propaganda-Front | |
| > Zu Beginn des Nato-Gipfels in Warschau halten sich die Medien mit Kritik | |
| > extrem zurück. Viele Russen haben vor dem Bündnis keine Angst. | |
| Bild: Eine Drohne vor dem Nationalstadion in Warschau | |
| Moskau taz | Sergej Wassiljew diente früher bei den Truppen der Luftabwehr. | |
| Als der Kalte Krieg Anfang der 1990er Jahre zu Ende ging, war Sergej 25 | |
| Jahre alt. Gerade hatte er die militärische Ausbildung hinter sich. In der | |
| Armee brachte er es noch bis zum Major. Seit einigen Jahren arbeitet der | |
| 50jährige als IT-Fachmann. Wassiljew ist Patriot, „aber ein echter“, sagt | |
| er. Im Gegensatz zur politischen Elite, die den Patriotismus öffentlich nur | |
| vor sich her trage. Diese Kreise fürchteten die Nato nicht wirklich, | |
| behauptet er. | |
| In den Tagen vor dem Warschauer Nato-Gipfel sind Russlands | |
| Propagandaapparate ruhig geworden. Wo sich vor kurzem eine Chance bot, | |
| Nato, Westen und Gleichgesinnte als Kriegstreiber zu verunglimpfen, wurde | |
| sie gnadenlos genutzt. Zurzeit herrscht ein Sendeloch. „ Wenn die Medien | |
| nicht berichten, gibt es auch keine Hysterie“, sagt Wassiljew. | |
| Ihn, den echten Patrioten und Militär, beunruhigt die Stille jedoch. 80 | |
| Prozent der Bevölkerung sei alles egal. Sergej hat vor dem Westen Angst, | |
| nicht jedoch vor dessen militärischer Stärke. Die wirtschaftliche und | |
| technologische Überlegenheit bereitet ihm Angst. Nato, Kapitalismus und | |
| Rücksichtslosigkeit sind für ihn Synonyme. | |
| Auch Wadim Bogatschow ist verunsichert. Der Militärarzt in den Sechzigern | |
| spürt die Beunruhigung in der Bevölkerung. Die ständige Konfrontation nach | |
| innen wie außen hätte die Menschen in Unruhe versetzt, sagt er. Fürchtet er | |
| die Rückkehr des Kalten Krieges“? Angesichts der Bedrohung durch | |
| islamistischen Terror und neuer heißer Konflikte erscheine der Kalte Krieg | |
| geradezu wie eine Zeit der Idylle, so Bogatschow. „Damals gab es klare | |
| Regeln, heute nicht mehr“. | |
| ## Nichts gegen Aufrüstung | |
| Gefahren seien nicht mehr einzuschätzen. Die neuen Kriege haben den Kalten | |
| Kreig in der Wahrnehmung verdrängt. Wie die meisten seiner Landsleute hat | |
| Bogatschow gegen die Aufrüstung in den letzten Jahren nichts einzuwenden. | |
| Russland hätte nichts anderes, womit es sich schützen könnte. | |
| Das ergaben auch Befragungen des unabhängigen Lewada-Zentrums für | |
| Meinungsforschung. In Fokus-Gruppen hatten Bürger in allen Altersgruppen | |
| nichts an einer kostspieligen militärischen Rüstung auszusetzen. Auch wenn | |
| diese zu Lasten des Gesundheits- und Bildungsetats ginge. Viele waren gar | |
| bereit, die Hälfte des russischen Haushalts für Rüstungsaufgaben zu opfern. | |
| Diese Bereitschaft, persönlich für Wehrhaftigkeit Verzicht zu üben, hat in | |
| Russland Tradition. In der Sowjetunion garantierte sie den | |
| Rüstungswettlauf. | |
| Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems stellte sich für viele | |
| die Frage: Wofür hatten sie jahrelang gedarbt und unendlich viel Zeit in | |
| Schlangen der Mangelwirtschaft zugebracht. | |
| Die kollektive Kränkung hält bis heute vor – trotz Aufopferung unterlegen | |
| zu sein und in der Systemkonkurrenz verloren zu haben, obwohl das Land | |
| hochgerüstet war. Unterzugehen ohne einen einzigen Schuss abzufeuern, | |
| verursachte die Traumata, an denen Russland bis heute leidet und warum es | |
| sich der Aufarbeitung entzieht. „Im Felde unbesiegt“ wie Deutschland nach | |
| dem 1. Weltkrieg pflegt auch Russland mit einer Dolchstoßlegende seine | |
| Mythen. Das Regime Wladimir Putins verhindert die Therapie. Der Niedergang | |
| des Imperiums erscheint so nicht als Folge ökonomischer Verausgabung, | |
| sondern als Resultat einer hinterhältigen Verschwörung des Westens. | |
| ## Kollektive Verdrängung | |
| Kurzum, die selbst verschuldete Niederlage bleibt unverstanden. Das | |
| erschwert das Gespräch mit dem Westen und macht die Nato zu einem Dämon. | |
| Die höchst widersprüchlichen Antworten ein- und derselben Person in der | |
| Lewada-Studie deuten auf massive und kollektive Verdrängungen hin. Fakten | |
| werden geleugnet. Waghalsige Konstruktionen verleimen die Widersprüche. | |
| So hat Russland durch den Sieg über den Faschismus sich bereits als | |
| demokratischer Staat ausgewiesen. Eine Interpretation der letzten Jahre. | |
| Kriege habe Russland nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr geführt. Militärische | |
| Interventionen ob in Afghanistan, Prag, im Donbass, in Georgien oder auf | |
| der Krim werden nur unternommen, um einen „größeren Krieg zu verhindern“. | |
| Die Mehrheit der Bevölkerung fühlt sich nach wie vor im Recht. Alles dient | |
| der Friedenssicherung und der eigenen Verteidigung. | |
| 8 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
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