# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Nachschub aus Minsk | |
> Längst werden von Belarus aus Raketen auf die Ukraine abgefeuert. | |
> Anzeichen deuten darauf hin, dass Moskau Belarus in den Krieg | |
> hineinziehen könnte. | |
Bild: Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko während ihres Treffens am Samst… | |
Russlands [1][Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine] könnte demnächst in | |
eine neue Phase treten – zumindest wenn man dem ukrainischen Präsidenten | |
glaubt. Am Sonntag wandte sich Wolodimir Selenski in einer Videobotschaft | |
an die Belaruss*innen. Der Kreml habe seine Entscheidung bereits getroffen. | |
Er sei dabei, das Nachbarland in den Krieg hineinzuziehen, sagte Selenski | |
und beschrieb damit ein Szenario, das dieser Tage nicht nur zahlreiche | |
ukrainische Fachleute voraussehen. | |
Dass Expert*innen irren können, zeigt zugegebenermaßen die Einschätzung | |
vom Februar, wonach russische Truppen nur wenige Tage bräuchten, um die | |
Hauptstadt Kiew einzunehmen. Auch im Osten läuft die „Spezialoperation“ von | |
Wladimir Putin nicht ganz nach Plan, wenngleich so manche/r schon einer | |
Niederlage der Ukraine das Wort redet. | |
Zwar haben die russischen Truppen mittlerweile im Gebiet Luhansk bedeutende | |
Gebietsgewinne zu verzeichnen, doch von ihrem Minimalziel, den ganzen | |
Donbass unter ihre Kontrolle zu bekommen, sind sie immer noch um einiges | |
entfernt. Der Durchmarsch im Süden der Ukraine lässt ebenfalls auf sich | |
warten. | |
Auch wenn es keine nachprüfbaren Informationen über die tatsächlichen | |
Verluste in den Reihen der russischen Armee gibt, was genauso auch für die | |
ukrainische Seite gilt, scheinen die menschlichen Ressourcen knapp zu | |
werden. Ein Indiz dafür ist eine Änderung des Wehrdienstgesetzes, das der | |
Duma in dieser Woche zur zweiten Lesung vorliegt. | |
## Ohne Grundausbildung an die Front | |
Danach könnten junge Männer gleich nach Erreichen der Volljährigkeit oder | |
des Schulabschlusses, das heißt unter Umgehung des Grundwehrdienstes, für | |
die Armee rekrutiert und in den Krieg geschickt werden. Wie viele dabei auf | |
der Strecke bleiben werden, tut nichts zur Sache, denn ein einzelnes Leben | |
zählt in Russland nichts. Genau deshalb spricht einiges dafür, dass sich | |
die Ukraine schon bald mit einer zweiten Front im Norden konfrontiert sehen | |
könnte. | |
Selenskis Appell an Belarus ist eine direkte Reaktion auf Dutzende | |
Angriffe, die in der Nacht zum vergangenen Sonntag Kiew und die | |
Zentralukraine trafen. Einen Teil der [2][Raketen feuerten russische | |
Kampfbomber vom Luftraum über Belarus ab]. Damit wurde einmal mehr | |
offensichtlich, dass Minsk dem großen Bruder längst Schützenhilfe leistet. | |
Derzeit schieben in Belarus schätzungsweise 1.500 russische Soldaten | |
Dienst. Sie nutzen mehrere Flughäfen, Logistik und Infrastruktur. | |
Im Februar überquerten russische Panzer auch von Belarus aus die Grenze zur | |
Ukraine. In der belarussischen Armee stehen 45.000 bis 48.000 Männer unter | |
Waffen, von den 260.000 Reservisten könnten im Bedarfsfall bis zu 100.000 | |
reanimiert werden. Aktuell sind belarussische Truppen mit einer Mannstärke | |
von bis zu 4.000 an die Grenze zur Ukraine abkommandiert. Zu einer „Übung“, | |
so lautet die offizielle Version, wobei es ein offenes Geheimnis ist, dass | |
es sich um eine Mobilmachung handelt. Klingelt da was? Eben. | |
Auch bis zum 24. Februar glaubten viele irrtümlicherweise, Russland würde | |
es mit seinem massiven Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine bei einer | |
Drohgebärde belassen. Dennoch behauptet der belarussische Staatschef | |
Alexander Lukaschenko, der sich bei der [3][Präsidentenwahl am 9. August | |
2020] mittels einer dreisten Fälschung eine sechste Amtszeit verschaffte, | |
beharrlich, sein Land werde nicht in den Krieg gegen die Ukraine ziehen. | |
## In Putins Schraubstock | |
Doch die Zeiten, wo Lukaschenko Russland gegen den Westen ausspielen und | |
dem Kreml Zugeständnisse abtrotzen konnte, sind Vergangenheit. Oder wie es | |
der ukrainische Journalist Sergej Wysozki in einem Beitrag für das | |
ukrainische Nachrichtenportal focus.ua etwas salopp formulierte: Nicht die | |
belarussische Zivilgesellschaft, sondern Wladimir Putin habe Lukaschenkos | |
Eier in einen Schraubstock gespannt. | |
Der Zusammenschluss beider Länder auf der Grundlage des Unionsvertrages von | |
1999 schreitet stetig voran. Dabei diktiert Moskau die Preise – politisch, | |
wirtschaftlich und militärisch. Bei ihrem Tête-à-Tête in St. Petersburg am | |
vergangenen Samstag sagte Putin Lukaschenko [4][die Lieferung des | |
Raketensystems Iskander-M] zu, das auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt | |
werden kann. | |
Passenderweise ist das Verbot für die Stationierung von Atomwaffen in | |
Belarus seit der Annahme eines sogenannten Referendums im Februar dieses | |
Jahres aus der belarussischen Verfassung gestrichen. Derweil rüstet | |
Lukaschenko zumindest schon einmal verbal auf. So bezeichnete er, ebenfalls | |
in St. Petersburg, die [5][litauische Blockade des Transits von russischem | |
Stahl und Metallen nach Kaliningrad] als eine Art Kriegserklärung. Diese | |
steht bekanntlich im Einklang mit den EU-Sanktionen. | |
Der vermeintliche Schulterschluss mit Wladimir Putin dürfte das Dilemma | |
Lukaschenkos nicht auflösen. Das Gegenteil ist der Fall. Denn dem | |
Autokraten, der Putin ausgeliefert ist, droht auch Ungemach an der | |
Heimatfront. Dort herrscht nach monatelangen Protesten infolge der | |
Präsidentenwahl 2020 wieder Friedhofsruhe. Aber die ist trügerisch und um | |
den Preis schwerster Repressionen gegen Andersdenkende erkauft. | |
Doch auch der Terror gegen die eigene Bevölkerung kann nichts daran ändern, | |
dass eine große Mehrheit der Belaruss*innen gegen diesen Krieg ist. Und | |
wozu die belarussische Zivilgesellschaft in der Lage ist, hat Lukaschenko | |
schon einmal zu spüren bekommen. Auf dem G7-Gipfel, der gerade zu Ende | |
gegangen ist, war wieder einmal viel von einer umfassenden Unterstützung | |
der Ukraine die Rede. | |
Putin dürfe diesen Krieg nicht gewinnen, so die Position. Deshalb ist | |
Warten, jetzt da die Möglichkeit eines Marschbefehls des Kreml an die | |
Adresse Lukaschenkos im Raum steht, keine Option. Ausflüchte, diese | |
Entwicklung habe man nicht voraussehen können, gelten jetzt nicht mehr. | |
Denn genau das hätte man. | |
30 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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