| # taz.de -- Dystopie-Roman „Doktor Garin“: Russland ist zerfallen | |
| > In Vladimir Sorokins „Doktor Garin“ ist der Krieg zum Alltag in Europa | |
| > geworden. Der Roman ist ein drastisches Sinnbild für das heutige | |
| > Russland. | |
| Bild: Heldenreise ohne Held oder Mission | |
| In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ist Russland zerfallen und Krieg | |
| in Europa zum Alltag geworden. Die Zeit der großen Ideen ist vorbei, die | |
| Menschen leben in kleinen Gruppen mit ihren eigenen Regeln, Gesetzen und | |
| Wahrheiten und man sorgt vor allem für sich selbst. | |
| In dieser postutopischen Welt, die der russische Schriftsteller Vladimir | |
| Sorokin schon in Romanen wie „Telluria“ als Zukunftsvision beschrieben hat, | |
| vermengen sich Hochtechnologie mit dem Geist des Mittelalters und | |
| neoliberaler Egoismus mit autoritärer Gewalt. | |
| In „Doktor Garin“, Sorokins neuem Roman, ist außerdem der Atomkrieg Thema. | |
| Während dieser in Literatur und Popkultur meist als alles vernichtende | |
| Katastrophe behandelt wird, die eine postapokalyptische Welt mit nur | |
| wenigen Überlebenden hinterlässt, beschreibt Sorokin Atombombenexplosionen | |
| als Teil des Alltags. | |
| Lästig zwar, aber wirklich beeindrucken tun sie niemanden, man lebt einfach | |
| weiter sein Leben, zur Not eben an einem anderen Ort. „Der Atompilz ist | |
| mittlerweile Teil der Landschaft geworden“, heißt es an einer Stelle. Ein | |
| so erschreckendes wie passendes Bild für eine Gegenwart, in der eine | |
| Katastrophenmeldung die nächste jagt und man ja trotzdem irgendwie | |
| weitermachen muss. | |
| ## Verwandelter Garin | |
| Doktor Garin kennt man bereits aus Sorokins Roman „Der Schneesturm“, in dem | |
| der Protagonist als junger Landarzt die Menschen in einem abgelegenen Dorf | |
| mittels Impfung davor bewahren wollte, zu Zombies zu werden. Mit dem | |
| Idealisten von damals hat der neue Garin allerdings wenig gemein, er ist | |
| ein anderer geworden, wie er selbst sagt. Und so braucht man auch den | |
| „Schneesturm“ nicht zu kennen, um die Handlung von „Doktor Garin“ zu | |
| verstehen. | |
| Garin ist mittlerweile Anfang 50 und Chefarzt eines angesehenen Sanatoriums | |
| in den Zedernwäldern des Altai-Gebirges. Er trägt einen goldenen Kneifer, | |
| liebt die anspruchsvollen Genüsse eines gebildeten Mannes und behandelt | |
| seine gutbetuchten Patienten mit Gesprächstherapie, Heilschlamm und | |
| Tannennadelbädern. | |
| Aber auch Furzwettbewerbe und anale Elektroschockbehandlung gehören zum | |
| Programm des Sanatoriums, bei dessen Beschreibung Sorokin nicht nur den | |
| pseudointellektuellen Habitus Garins gekonnt parodiert, sondern auch eine | |
| gute Portion Fäkalhumor zum Einsatz kommen lässt. | |
| ## Genmanipulierte Wesen | |
| So treten als Patienten genmanipulierte Wesen in Form von riesigen | |
| Hinterteilen mit Mund, Augen und Armen auf. Bei ihnen handelt es sich um | |
| die „Ex-Staatsärsche“ Angela, Boris, Donald, Emmanuel, Justin, Shinzo, | |
| Silvio und Wladimir. Die Figuren sind so alberne wie treffende Karikaturen | |
| der realen Vorbilder. Donald vermengt zum Abendessen Chicken Wings, Softeis | |
| und Coca-Cola zu einem Brei und Wladimir kann nur einen einzigen Satz | |
| sagen: „Ich war’s nicht.“ | |
| Das Sanatorium wird aus seinem beschaulich-neurotischen Leben gerissen, als | |
| die kasachischen Streitkräfte mal wieder eine Atombombe auf das Gebiet der | |
| Republik Altai abwerfen – diesmal ganz in der Nähe der Heilanstalt. | |
| Personal und Patienten machen sich auf den Weg durch die Wälder, um in die | |
| nächstgrößere Stadt zu kommen, und begegnen unterwegs Menschen mit den | |
| verschiedensten Lebensentwürfen. | |
| Etwa einer patriarchal organisierten Handwerkerdynastie, Drogenhändlern, | |
| die ihre Ware mit Drohnen liefern und einer Gruppe Anarchist*innen, die | |
| Bakunin und Kropotkin verehren und in einem eingezäunten Lager mit | |
| Stacheldraht und Wachtürmen leben, „um die Reinheit der anarchistischen | |
| Idee vor äußeren Gräueln zu beschützen“, und einem Grafen, der ein Anwesen | |
| im Stil des 19. Jahrhunderts bewohnt und Angst vor Mobilfunkstrahlung hat. | |
| ## Odyssee im Bademantel | |
| Kaum in der Stadt angekommen, wird Garin während eines Besuchs des | |
| örtlichen Wellnessbades von den anderen getrennt. Die Stadt wird beschossen | |
| und Garin kann sich, nur mit seinem Bademantel bekleidet, gerade so aus dem | |
| einstürzenden Gebäude retten. Nun beginnt seine eigentliche Odyssee, die | |
| ihn durch die weite Wald- und Sumpflandschaft Sibiriens führt und während | |
| der er allerhand seltsamen Gestalten begegnet. | |
| „Zottelorks“ zum Beispiel, Nachkommen eines missglückten sowjetischen | |
| Experiments mit dem Ziel, Supersoldaten zu züchten. Sie leben in einfachen | |
| Siedlungen im Sumpf und verehren Smartphones als kultische Objekte. Garin | |
| übergibt sich bereitwillig seinem Schicksal und lässt sich treiben – im | |
| übertragenen wie im wörtlichen Sinne: Einen großen Teil seiner Reise | |
| verbringt er im Fluss Ob treibend. „Ich bin auf dem richtigen Weg, der | |
| Fluss wird mich führen …“, philosophiert er. | |
| Die verschiedenen Lebensweisen, mit denen Garin unterwegs konfrontiert | |
| wird, sind Gesellschaftsentwürfe in Miniaturform, verzerrte Spiegelbilder | |
| vergangener Epochen und Ideologien, keine von ihnen besonders friedlich | |
| oder demokratisch. Sorokin zeigt, wie häufig in seinem Werk, die Wiederkehr | |
| der Vergangenheit als Farce, hält dem Traditionalismus, wie er in Putins | |
| Russland und weltweit in der neuen Rechten auf dem Vormarsch ist, den | |
| Spiegel vor. | |
| ## Groteske Kerker-Variante | |
| Das tut er nicht nur in Garins Geschichte selbst, sondern auch in | |
| Einschüben: Texte aus zufällig unterwegs gefundenen Büchern oder | |
| Schilderungen von Träumen und Drogentrips des Protagonisten. In diesen | |
| Texten findet sich etwa eine groteske Kerker-Variante des | |
| Höhlengleichnisses oder eine Parodie sowjetischer Propagandaliteratur | |
| („Über dem bedeutendsten Platz des Landes explodierte die Sonne der | |
| sowjetischen Wahrheit gleich einer Wasserstoffbombe der Freude“). | |
| Die sprachlichen Experimente und Stilimitationen, die sich in diesen | |
| Einschüben finden – und die die Übersetzerin Dorothea Trottenberg einmal | |
| mehr gekonnt ins Deutsche übertragen hat –, [1][erinnern an frühere Romane | |
| und Erzählungen Sorokins,] die vollständig als solche postmodernen | |
| Experimente angelegt sind. „Doktor Garin“ ist dagegen recht konventionell | |
| erzählt, dem Roman fehlt die Radikalität und Doppelbödigkeit früherer | |
| Werke. | |
| Dennoch zeigt Sorokin auch in diesem Buch, warum er als bedeutendster | |
| russischer Gegenwartsautor gilt. Neben urkomischen, absurden Szenen und | |
| irritierender Groteske beherrscht er vor allem eines: [2][in die Idylle | |
| unvermittelt das Grauen einbrechen zu lassen]. Wie er zu Beginn des Romans | |
| die Beschreibung des Sonnenaufgangs über den Zedernwäldern in die | |
| Beschreibung der zerstörerischen Wolke der Atomexplosion übergehen lässt, | |
| ist meisterhaft. | |
| ## Das Grauen ignorieren | |
| Was aber, wenn wir das Grauen einfach ignorieren, egal wie offensichtlich | |
| es ist, und weiter so tun, als würden wir in der Idylle leben? Doktor Garin | |
| verkörpert diese so ignorante wie privilegierte Haltung. Mit seiner | |
| passiven „Wird schon werden“-Einstellung, seinem Schwimmen mit dem Strom | |
| und dem Hinnehmen von Missständen ist Garin erfolgreich. | |
| Er kann am Ende ziemlich genau dort weitermachen, wo er aufgehört hat: | |
| Gemütlich rauchend, von Büchern umgeben in seinem Sprechzimmer sitzend. | |
| Seine Odyssee ist eine Heldenreise ohne Held oder Mission, er lernt | |
| unterwegs nichts über sich oder die Welt. Als Identifikationsfigur taugt | |
| Garin somit nicht, er bleibt so hohl und emotionslos wie die Sprichwörter | |
| und Kalendersprüche, die er ständig von sich gibt („Ist der Blutkreislauf | |
| gesund, läuft es auch im Leben rund“). | |
| „Doktor Garin“ ist bereits 2021 in Russland erschienen, nimmt aber bereits | |
| ein Phänomen in den Blick, das sich auf die Passivität in großen Teilen der | |
| russischen Bevölkerung angesichts von Kriegsverbrechen und politischen | |
| Repressionen beziehen lässt. Denn die Figur Garin verkörpert etwas, das oft | |
| als „typisch russisch“ bezeichnet wird: Awos. | |
| Der kaum zu übersetzende Begriff steht grob für den Glauben daran, dass | |
| schon alles irgendwie werden wird. Bis dahin werden Probleme eher ignoriert | |
| und Leid hingenommen, anstatt etwas dagegen zu unternehmen. Man richtet | |
| sich so gut es geht in widrigen Umständen ein, mit der Zuversicht, dass | |
| Gott oder das Glück es schon regeln werden. | |
| Man kann das Resilienz nennen und es mag eine nachvollziehbare Haltung sein | |
| angesichts politischer Umstände, in denen jeder kleinste Protest hart | |
| bestraft wird. Aber man kann es auch Fatalismus nennen, Ignoranz, | |
| Abwesenheit von Empathie, Mitläufertum. Das, was Unrecht am Leben hält. | |
| 11 Apr 2024 | |
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