# taz.de -- Zensur in Russland: Die letzten Tage des freien Lesens | |
> Lange Zeit haben die russischen Behörden den Buchmarkt kaum beachtet. | |
> Doch die Spielräume für regimekritische Bücher verengen sich zusehens. | |
Bild: Die Menschen müssen sich beeilen mit dem Lesen. Morgen schon könnte das… | |
Wer in Russland dieser Tage ein Buch veröffentlichen will und „keine Lust | |
hat, darüber zu schreiben, wie großartig Peter der Große war, der muss sich | |
beeilen“. Das sagt Felix Sandalov, der einen unabhängigen Verlag in Moskau | |
leitete und den russischen Buchmarkt gut kennt. | |
Sandalov: „Es gibt eine richtige Welle an Leuten, die schnell ihre | |
Manuskripte veröffentlichen wollen, weil sie das Gefühl haben, dass man nie | |
wieder so viel Freiheit haben wird wie jetzt. Viel Freiheit ist das zwar | |
nicht, aber mehr, als es morgen geben wird.“ | |
Lange Zeit haben sich die russischen Behörden wenig für den Buchmarkt | |
interessiert. Es gab zwar ab und an Probleme für Verlage und kritische | |
Autor*innen, aber andere Bereiche der Kultur – etwa Filme oder Musik – | |
waren häufiger von Zensurmaßnahmen betroffen. Womöglich wurden Bücher als | |
zu wenig populär und damit politisch irrelevant betrachtet. Auch erreichen | |
sie selten so große Massen wie aufwendige Filmproduktionen. | |
Das hat sich mit der Vollinvasion der Ukraine geändert. Seit 2022 bemüht | |
sich der russische Staat zunehmend, zu kontrollieren, was die | |
Bürger*innen lesen. Dass bekannte oppositionelle Autor*innen wie | |
Boris Akunin, [1][Dmitry Glukhovsky] und [2][Ljudmila Ulitzkaja] mit dem | |
Status „ausländische Agenten“ zu Staatsfeinden erklärt und ihre Bücher | |
verboten werden, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. | |
Zensur ist in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 offiziell | |
verboten, trotzdem bedient sich der Staat zahlreicher Mittel, um Einfluss | |
darauf zu nehmen, welche Bücher gedruckt und verkauft werden. | |
## Ganze Auflagen werden eingestampft | |
„Es gibt mehrere Gründe, warum der Staat ein Buch verbieten kann. Der | |
offensichtlichste ist, wenn behauptet wird, dass es auf irgendeine Art | |
extremistisch ist, dass es Aufrufe zum Aufstand oder Ähnliches enthält“, | |
erklärt Felix Sandalov. Außerdem ist es verboten, bestimmte „schädliche“ | |
Inhalte zu verbreiten, Pornografie etwa oder Werbung für Drogen. | |
Seit 2022 sind auch „Falschdarstellungen über die russischen Streitkräfte“ | |
sowie [3][„LGBT-Propaganda“] verboten. Was genau unter die Verbote fällt, | |
ist in den Gesetzen nicht klar formuliert, und ihre Auslegung durch die | |
Behörden erscheint oft willkürlich. „Alles kann als LGBT-Propaganda | |
interpretiert werden“, sagte eine russische Verlagsmitarbeiterin kürzlich | |
gegenüber dem Exilmedium Meduza. Wegen einzelner Sätze könnten ganze | |
Auflagen eingestampft werden. | |
Welche Bücher es treffen wird, ist dabei kaum voraussehbar. Allein die | |
schiere Menge an Buchpublikationen macht eine flächendeckende Kontrolle des | |
Buchmarkts bisher unmöglich, denn eine systematisch arbeitende | |
Zensurbehörde wie in Sowjetzeiten gibt es nicht. Aktuell werden die | |
Behörden im Innen- oder Justizministerium meist dann auf ein bestimmtes | |
Buch aufmerksam, wenn es besonders erfolgreich ist. Oder wenn sie darauf | |
aufmerksam gemacht werden – durch Denunziation, Beschwerden oder | |
Hetzkampagnen von kremltreuen Aktivist*innen in den sozialen Medien. | |
## Warnung an Druckereien | |
Um Verbote und Strafen zu vermeiden, veröffentlichen viele Verlage keine | |
Bücher mehr, die Anstoß erregen könnten, oder tilgen heikle Passagen aus | |
den Manuskripten. Die Verlagsgruppe AST nahm im April [4][den aktuellen | |
Roman des bekannten oppositionellen Schriftstellers Vladimir Sorokin] aus | |
dem Verkauf, nachdem ein Expertengutachten zu dem Schluss kam, dass er | |
verbotene Inhalte enthalte. | |
Genutzt hat die Maßnahme wenig: Im November wurde der Roman offiziell | |
verboten – angeblich wegen Pornografie –, und für die Veröffentlichung | |
müssen sich Verlag und Druckerei eine Geldstrafe von vier Millionen Rubel | |
(knapp 40.000 Euro) teilen. | |
Dieses Urteil ist laut Felix Sandalov auch als eine Warnung an Druckereien | |
zu verstehen, dass sie sich besser vorher anschauen sollten, was sie | |
drucken. Er selbst hat das mit seinem Verlag, der politische Sachbücher | |
veröffentlichte, erlebt: „Es war bei einigen Büchern schwierig, eine | |
Druckerei zu finden, die nicht ihre Nase in das Buch steckt und sagt: ‚Oh | |
nein, da kommen Schwule vor‘, oder: ‚Oh nein, das ist riskant, weil es um | |
Diktatur geht‘ “. | |
Literarische Texte haben es leichter, ein solches besorgtes Durchblättern | |
zu überstehen, als Sachbücher und journalistische Texte, denn die „müssen | |
die Dinge bei ihrem Namen nennen, können nicht auf Metaphern oder Ironie | |
zurückgreifen“, meint Sandalov. | |
## Weniger Luft zum Atmen | |
Noch gibt es Verlage und Autor*innen, die bereit sind, Risiken einzugehen | |
und sogar Bücher veröffentlichen, die den Krieg gegen die Ukraine | |
thematisieren. Zum Beispiel das „Tagebuch vom Ende der Welt“ von Natalja | |
Kljutscharjowa, in dem sie beschreibt, wie sich das Leben in Russland seit | |
dem 24. Februar verändert hat, dass dort für Regierungsgegner*innen | |
wie die Autorin immer weniger Luft zum Atmen bleibt. | |
Der Text, der zuerst in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschien, nimmt | |
kein Blatt vor den Mund. Die heikelsten Stellen sind in der russischen | |
Ausgabe vom Verlag geschwärzt worden, um sich weniger angreifbar zu machen. | |
Bisher gab es keine Beanstandungen von staatlicher Seite. Es gibt einige | |
Verlage, die sich dieses Mittels bedienen – um sich abzusichern und | |
gleichzeitig sichtbar zu machen, dass vieles nicht mehr gesagt werden darf. | |
Noch ist es möglich, mit kleinen Auflagen unter dem Radar des Regimes zu | |
bleiben, doch der russische Staat arbeitet daran, seine Kontrolle über den | |
Buchmarkt auszuweiten. Laut eines Protokolls des Kulturministeriums | |
befindet sich ein Expertengremium im Aufbau, das Bücher auf „destruktive | |
Inhalte“ überprüfen und ein „einheitliches Verzeichnis nichtempfohlener | |
Literatur“ erstellen soll. Anfang Dezember schlug die Putin-Beraterin | |
Jelena Jampolskaja außerdem vor, alle Buchveröffentlichungen staatlich | |
prüfen zu lassen: „Ich bin immer wieder erstaunt, dass beispielsweise ein | |
Film in der Russischen Föderation ein Verleihzertifikat erhalten muss, | |
bevor er auf die Leinwand kommt, während ein Buch einfach so veröffentlicht | |
werden kann.“ | |
## Jetzt alles eilig lesen | |
Noch fehlen dem Staat die Ressourcen, diese Pläne umzusetzen, aber dass die | |
Spielräume von Tag zu Tag kleiner werden, ist deutlich spürbar. Die | |
Journalistin Wiktorija Artemjewa schreibt in der Novaya Gazeta: „Es bleibt | |
uns nichts anderes übrig, als eilig alles zu lesen, was heute noch nicht | |
verboten ist, aus Angst, dass es morgen schon verboten sein könnte.“ | |
Und das, was verboten ist, werden Interessierte in Russland vor allem | |
online finden: Auf illegalen E-Book-Seiten oder in Fanfiction-Foren, in | |
denen es noch Raum etwa für queere Geschichten gibt. Mehrere solcher Seiten | |
wurden in Russland in den letzten Monaten gesperrt, doch neue kommen nach. | |
Viele Bücher, die in Russland nicht mehr erscheinen können, werden von | |
russischsprachigen Exilverlagen im Ausland publiziert. Felix Sandalov | |
unterstützt diese Verlage mit seiner Stiftung „Straightforward“ und setzt | |
sich vor allem für die Übersetzung dieser Bücher ein, damit die | |
Leser*innen in Deutschland und anderen europäischen Ländern einen | |
direkten Einblick in das erhalten, was gerade in Russland passiert. Denn, | |
so Sandalov, „der Ausgang des Krieges in der Ukraine hängt sehr stark von | |
den Entscheidungen der Wähler*innen in den europäischen Ländern ab“. | |
Um auch weiterhin Menschen in Russland mit regierungskritischen Texten zu | |
versorgen, wird ausgetestet, Bücher über inoffizielle Wege ins Land zu | |
bringen und dort zu vertreiben. Mit der Post sollte man die Bücher | |
allerdings besser nicht schicken, meint Sandalov: Ein Bekannter von ihm hat | |
als Experiment fünf Päckchen mit der Autobiografie von Alexei Nawalny nach | |
Russland geschickt – nur eines kam an. Man kann es wohl als ein schlechtes | |
Zeichen sehen, dass vier der Bücher verschwunden sind – oder als ein gutes, | |
dass überhaupt eines ankam. | |
13 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Norma Schneider | |
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