| # taz.de -- Roman von Anne de Marcken: Der Zombie, den wir verdienen | |
| > Mit „Es währt für immer und dann ist es vorbei“ legt die US-Amerikanerin | |
| > einen spektakulären apokalyptischen Roman vor. | |
| Bild: Jede Zeit bekommt den Zombie, den sie am meisten fürchtet. Anne de Marck… | |
| Von den zahlreichen Apokalypsen, die uns die Popkultur beschert hat, gehört | |
| die Zombie-Apokalypse fraglos zu den intellektuell ergiebigsten. Man hat | |
| mit ihr schon von Überbevölkerung und Kapitalismus, von der AIDS-Seuche, | |
| von Drogensucht, Revolutionen, Rassismus und Klassismus erzählt. | |
| Jede Zeit bekommt [1][den Zombie, den sie am meisten fürchtet.] Er ist eine | |
| Art Generalmetapher, der für das aktuell stärkste Unbehagen einer | |
| Gesellschaft steht. Und eine zutiefst politische Figur, insofern die | |
| Gesellschaft mit dem Auftreten der fleischfressenden Monster unweigerlich | |
| in Stücke geht. Gerade in diesen Zeiten, da so viel von Disruption, von | |
| Zerstörung die Rede ist, lohnt sich jede Spekulation über den Zombie der | |
| Gegenwart, den Grund größtmöglicher Verunsicherung. | |
| Im Roman „Es währt für immer und dann ist es vorbei“ der US-amerikanischen | |
| Autorin Anne de Marcken ist es der Verlust. Ihre Erzählerin, ein | |
| namenloser, weiblicher Zombie, büßt schon auf den ersten Zeilen seinen | |
| linken Arm ein. Er fällt einfach ab, wohl weil ein Bindemittel verloren | |
| gegangen ist, das so einen Körper für gewöhnlich zusammenhält. Vielleicht | |
| ein Blutkreislauf, vielleicht eine Seele. | |
| Letztere ist zwar nicht völlig verschwunden, doch haben die Untoten in | |
| dieser Geschichte offenbar den Kontakt zu ihr verloren. Mitunter erinnern | |
| sie sich bruchstückhaft an Situationen aus ihren früheren Leben, aber nie | |
| reicht die Erinnerung so weit, dass sie ihrer selbst wieder habhaft werden. | |
| Immer nur gelangen sie an den Punkt, an dem sie sicher sind, dass sie viel, | |
| unendlich viel verloren haben. | |
| ## Dieses Jenseits ist melancholisch, nicht sozialkritisch | |
| In einem Hotel vegetieren die Zombies vor sich hin, jagen ab und zu ein | |
| paar Teenager und verlieren sich ansonsten in düsteren Überlegungen über | |
| ihre Existenz. Man denkt an Jean-Paul Sartres „Geschlossene Gesellschaft“, | |
| jenes Stück, in dem eine Gruppe Menschen nach ihrem Tod in einem Hotelsalon | |
| eingeschlossen wird, und mehr noch an die berühmte Quintessenz der | |
| Geschichte: „Die Hölle, das sind die anderen“. | |
| Auch dieses Hotel hier ist eine Hölle, seine Bewohner können noch so viel | |
| Fleisch in sich hineinschaufeln, nie werden sie satt. Aber daran sind nicht | |
| die anderen schuld, dieses Jenseits ist nicht sozialkritisch, es ist | |
| melancholisch. | |
| Was auch immer man sich hier zuführt, was auch immer noch erlebt werden | |
| könnte, es kommt nicht heran an das, was einmal war und nie wieder sein | |
| wird: „Ich habe immer so getan, als könnte alles gut werden, weil niemand | |
| einen unendlichen Abschied aushalten kann. Abschied von Heidelbeeren, vom | |
| Meer, von den Raben, von den Pelikanen und Kiebitzen und Kormoranen. | |
| Abschied von dem Fleck aus Sonnenlicht, der jeden Tag gegen vier Uhr an die | |
| Wand im Wohnzimmer fiel. Abschied vom Geräusch deiner Schritte im | |
| Nebenzimmer.“ | |
| Der Verlust ist Thema und zugleich auch der Adressat des Textes. Die | |
| frühere Partnerin der Erzählerin wird angesprochen, ihr gilt jedes Wort, de | |
| Marckens Buch ist ein Tagebuch der Trauer, eine Schilderung des leeren, des | |
| hohlen Lebens nach der Trennung. Dabei ist jedoch unbedingt anzumerken, | |
| dass sich die Autorin ebenso sehr für die Struktur einer Metapher | |
| interessiert wie dafür, was sie bedeutet. | |
| ## Alles zerbricht | |
| Die hier beschriebene postapokalyptische Welt kann mithin als das Ergebnis | |
| einer Trennung, sei es durch den Tod oder vielleicht auch nur das profane | |
| Zerbrechen einer Beziehung, verstanden werden. Der Roman selbst lässt sich | |
| aber ebenso als verzweifelte Suche nach einem metaphysischen Klebstoff | |
| verstehen, der den Verlust per se verunmöglicht, also nach einer Sache, | |
| einem Zauberspruch, irgendeinem Zeug, das etwas mit etwas anderem endlich | |
| sicher verbindet, das zusammenhält, was zusammengehört. | |
| Was das eine konkret ist und was das andere, das ist nicht die | |
| entscheidende Frage, weil der Verlust selbst und die Reaktion darauf hier | |
| untersucht werden. Wobei „untersuchen“ ein viel zu nüchternes Verb für | |
| dieses literarische Abenteuer ist, denn was de Marcken hier auf weniger als | |
| 150 Seiten an Ideen und Bildern auffährt, was sie den Genrekonventionen | |
| alles abringt, ist wirklich ein Ereignis, ist spektakulär. Schon allein die | |
| Szene, in der eine menschliche Großmutter sich sorgfältig den Arm abbindet | |
| und ihn ihrem untoten Enkel hinhält, damit er sich an ihrem Fleisch gütlich | |
| tun kann! | |
| Dieser kurze Roman atmet eine tiefe Traurigkeit, ist dabei aber zugleich | |
| wirklich witzig und von Erkenntnis stiftender Skurrilität. Man versteht | |
| sofort, warum [2][Büchner-Preisträger Clemens J. Setz] die Übersetzung | |
| verantwortet, hat doch auch er eine große Schwäche für | |
| Perspektivverschiebungen solcher Art. | |
| Die Erzählerin verlässt nach einer Weile das Hotel und streift durch die | |
| entseelte USA, immer gen Westen jagt sie ihren Erinnerungssplittern nach, | |
| zerfällt dabei in Einzelteile. Bald trägt sie den eigenen Kopf an einem | |
| Stock durchs Land, schaut sich selbst von außen zu. | |
| Das Grundgefühl dieser Prosa ist die Trauer, ist die Zerrissenheit zwischen | |
| dem, was man heute zu sein hat, und dem, was man früher einmal war. Das | |
| muss man nicht, kann es aber politisch verstehen: Wenn der westliche Mensch | |
| heute noch nach etwas Sehnsucht verspürt, dann liegt das Objekt seines | |
| Begehrens in der unwiederbringlichen Vergangenheit. | |
| 22 Jul 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Wolf | |
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