| # taz.de -- Neuer Roman von Theresia Enzensberger: Gurus gibt es auch auf dem W… | |
| > Eine Utopie erleidet Schiffbruch mit Zuschauerinnen: Theresia | |
| > Enzensbergers zweiter Roman „Auf See“ steht auf der Longlist zum | |
| > Buchpreis. | |
| Bild: Meeresluft macht frei: Die Seestadt ist eine Mischung aus „Water World�… | |
| Jede Suche nach einem Utopia beginnt mit einem Selbstbetrug: dass man die | |
| Mängel und Mühen der Zivilisation hinter sich lassen, von vorne beginnen | |
| könne. Utopien sind vielleicht so alt wie die Menschheit, aber die | |
| Gegenwart hegt dystopische Zukunftserwartungen. Da überrascht es nicht, | |
| dass sich in Theresia Enzensbergers Roman „Auf See“ ein utopischer Gegenort | |
| in ein dystopisches Gefängnis verwandelt. | |
| Die Seestatt, vor der Küste eines Deutschlands der nahen Zukunft gelegen, | |
| wurde als Antwort auf einen dräuenden gesellschaftlichen Kollaps gegründet. | |
| Doch der Zufluchtsort entpuppt sich als Sekte, die Arbeiter ausbeutet und | |
| um einen Guru zentriert ist. Und es fällt Yada, der Tochter des | |
| Sektenführers, zu, die Rebellion gegen den väterlichen Oikos anzuführen. | |
| Enzensbergers gescheitertes Utopia besteht aus einer Reihe von | |
| schwimmenden, bienenwabenförmigen Modulen, ist eine Mischung aus „Water | |
| World“ und platonischem Bienenstaat, in der die Algen blühen und der Rost | |
| an den Behausungen nagt. Die wasserbasierte Subsistenzwirtschaft geht nicht | |
| auf, das eigentlich grüne Versprechen scheitert an den Tücken der | |
| neoliberalen Subjektkonstitution. Und um jenen Neoliberalismus geht es in | |
| diesem konzeptionell starken Roman, der auf drei Erzählebenen operiert. | |
| Yada, deren sprechender Name auf Thailändisch „die Wissende“ bedeutet, | |
| tritt als Ich-Erzählerin auf und muss das Rätsel um ihre verstorbene Mutter | |
| lösen. Auf der zweiten Ebene berichtet ein personaler Erzähler von Helena, | |
| der verschollenen Mutter der Sekte. Diese Ebene befindet sich aus | |
| Perspektive der Romangegenwart in der Vergangenheit. Helena ist Künstlerin. | |
| Im Grunde ist ihre Sekte ein künstlerisches Experiment, aber die | |
| Verheißungen verselbständigen sich. Helena ist ein Kind ihrer Zeit, unserer | |
| Gegenwart nämlich, in der alles doppelbödig und ironisch daherkommt. | |
| ## Selbstoptimierung und Himmelreich | |
| Die schöne Pointe besteht darin, dass Helena ihren Sektenmitgliedern | |
| Selbstoptimierung als Weg zum irdischen Himmelreich vorschlägt, dass also | |
| an die Stelle von verheißungsvollen Schlaraffenländern das hamsterradartige | |
| Kreisen um das eigene Ich tritt. Vielleicht darf man sich Helena als eine | |
| Schwester Christoph Schlingensiefs denken. Man stelle sich nur vor, | |
| Hunderttausende Badegäste hätten sich auf Schlingensiefs Geheiß | |
| tatsächlich in den Wolfgangsee gestürzt, um Helmut Kohls Ferienhaus zu | |
| fluten. | |
| Auf der dritten Erzählebene spricht ein Archiv zum Leser. Es handelt sich | |
| um Helenas Archiv, das eine Vielzahl utopischer Projekte versammelt, die | |
| sich allesamt als Schwindel und Betrug entpuppten. Das Archiv berichtet | |
| aber auch von dem großen Gründungskongress der neoliberalen Bewegung 1947. | |
| Man benötigt nicht viel Fantasie, um die Seestatt als Parabel auf die | |
| neoliberale Ideologie zu lesen, deren Mitbegründer und Ideengeber Friedrich | |
| August von Hayek und Ayn Rand heute von ihren Anhängern wie Gurus verehrt | |
| werden. Und deren zentrales Versprechen, wonach die Freiheit vom Staat die | |
| Freiheit des Subjekts ermöglicht, sich leider im globalen Kapitalismus | |
| nicht verwirklicht. Die Seestatt Vineta, ein Plattformkapitalismus im | |
| Wortsinn, kann nur durch die Ausbeutung der menschlichen Umwelt | |
| aufrechterhalten werden. | |
| ## Literarische Dystopie | |
| Die Seestatt oder die Luxusjachten der Reichen, die Steuerparadiese | |
| ansteuern, sind Sinnbild für den Prozess, den Bruno Latour in seinem | |
| terrestrischen Manifest beschreibt: dass die globalen Eliten schon vor | |
| Jahren entschieden, sich von der restlichen Welt zu entkoppeln. Weder die | |
| Kritik am Neoliberalismus, noch der wohlige Grusel angesichts literarischer | |
| Dystopien ist neu. Prominent spielte zuletzt Sibylle Berg mit gleich zwei | |
| ziegelsteinschweren Romanen das Angst-Lust-Szenario durch: Ein | |
| totalüberwachender Plattformkapitalismus macht die Weltbevölkerung zu | |
| ideologiegesättigten Zombies. | |
| Wo bei Berg aber ein sermonartiger Sound die Leser einlullt, schafft | |
| Enzensberger erzählerische Distanz, die dem Text guttut. Gerade das Archiv | |
| mit seinen Verweisen auf den globalen Finanzkapitalismus, der alte | |
| koloniale Strategien durch subtilere Machtformen ergänzt, liefert Motive, | |
| die Enzensberger auf den anderen Erzählebenen durchspielen kann. Die | |
| Seestatt und all die anderen zeitgenössischen Guru-Utopien müssen niemandem | |
| mehr Land abringen. Sie streben nach Autonomie, die auf See verwirklicht | |
| wird. | |
| Enzensbergers Szenario ist in der Verquickung der Elemente sehr originell. | |
| Auf metafiktionaler Ebene frustriert allerdings etwas, dass zu oft | |
| festgestellt wird, statt sichtbar zu machen. Yada hat zudem einen Hang zu | |
| Sätzen mit Pseudotiefgang. „Jeder absolvierte Teil meines Stundenplans | |
| rückte in eine Vergangenheit, die schon bald nur noch aus Erinnerungen | |
| bestehen würde.“ Das hat die Vergangenheit so an sich. | |
| Das könnte dem Roman, sehr zu Unrecht, denn Vorwurf des Midcults | |
| einbringen, wie ihn Moritz Baßler gegen die zeitgenössischen Romane aus der | |
| Feder jüngerer Autorinnen richtete. Tatsächlich fehlt Enzensberger nur das | |
| Vertrauen in den Leser. Der entpuppt sich, schneller als Yada, als der | |
| Wissende. | |
| 27 Aug 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Marlen Hobrack | |
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