# taz.de -- „GRM Brainfuck“ von Sibylle Berg: Schwarz und schwärzer | |
> Das Deutsche Theater Göttingen inszeniert Sibylle Bergs Techno-Dystopie – | |
> leider gerät das allzu monochrom. | |
Bild: Gefühle von Lebendigkeit entstehen nur beim Konsumieren: Rebecca Klingen… | |
Na dann: Gute Nacht – nicht nur heute Abend, sondern auch für alle | |
utopischen Morgenröten? Aktuelle Fehlentwicklungen des globalen | |
Miteinanders von Mensch und Mensch sowie Natur hat die Autorin Sibylle Berg | |
gesammelt, knackig analysiert und meinungsstark zu einer gar nicht so | |
fernen Dystopie zugespitzt. [1][Ihre über 600 Seiten starke | |
Gegenwartsanklage, den Roman „GRM. Brainfuck“,] dramatisierte am Deutschen | |
Theater Göttingen nun, seitenzahlmäßig sehr gestrafft, Regisseur Niklas | |
Ritter. | |
Wie Berg nutzt er ein „Sammelbecken für die Unnützen“, die postindustriel… | |
Brache Rochdale in Nordwestengland, als Infektionsort übler | |
Neoliberalismus-Viren. Und erwähnt die Folgen dieser Pandemie: Klimawandel, | |
Artensterben, Brexit, Migration, Abbau von Sozialstaat und | |
Gesundheitssystem, Verarmung, Rechtsradikalismus, Klassismus – bis hin zum | |
Wandel des Internets. Einst das „größte Anarchismus-Experiment der | |
Geschichte“, sei es nurmehr „Ort der Verblödung, der Verhetzung, der | |
Manipulation und Frustration“. | |
Geblendet vor lauter Bühnendunkelheit ist das Göttinger Publikum von Beginn | |
an. Ein stummes Windrad wartet vergeblich auf eine optimistische Brise. Das | |
Schauspieler:innen-Sextett agiert eingegittert im ersten Rochdale-Teil, der | |
London-Aufenthalt dann spielt sich, nach der Pause, um einen höhlenartigen | |
Rückzugsort herum ab. Anders als die „GRM“-[2][Uraufführung des Hamburger | |
Thalia Theaters] im Herbst 2021 deutet die Göttinger Inszenierung die | |
Rap-Natur des stakkatohaften, Gedanken- mit Zeilenumbrüchen markierenden | |
Textes nur an. Meist wird aber auktorial in direkter Publikumsansprache | |
referiert. | |
Das Ensemble kommt kaum ins Spielen miteinander, nicht ins Spielen | |
einzelner Szenen des Plots, auch nicht ins Erspielen der zentralen | |
Persönlichkeiten Don, Hannah, Karen und Peter – nur ins Berichten über | |
diese privat traumatisierten und von der Sozialbürokratie ignorierten | |
Kinder. Ungetröstet-cool kultivieren sie als typisierte Figuren in | |
Kriegsbemalung die nagende Wut und den kalten Zorn der Ausgegrenzten, | |
befeuern gewaltbereit brodelnden Hass, um ihn produktiv in Stellung zu | |
bringen gegen die Verzweiflung, im Burn-out-Modus rotierend. | |
## Das totalüberwachte Leben | |
Geradezu sachlich werden erst mal ihre familiären Höllenszenarios | |
vorgestellt: geprägt von Vernachlässigung sowie Misshandlung, Eltern, die | |
verloren gehen durch Suizid, Mord, Unfall, Drogenmissbrauch, Alkoholismus | |
oder an den Knast. Es folgen Schilderungen der von Porno-Überdosen | |
versauten Pubertät. Auch Einblicke in den Alltag der dekadenten Upper Class | |
bestätigen den Eindruck einer degenerierten Gesellschaft. | |
Für jede Figur werden Steckbriefantworten verlesen zu Gefährderpotenzial, | |
Ethnie, Interessen, Sexualität, Konsumverhalten, Aggressionspotenzial, | |
Intelligenz, Kreditwürdigkeit etc. – Verweis auf den Chip, den in der | |
Brainfuck-Zukunft jene eingesetzt kriegen, die Grundeinkommen beziehen | |
wollen. Mit der Folge eines fortan totalüberwachten Lebens, gesteuert durch | |
ein Social-Scoring-System mitsamt Strafe und Belohnung. Zum Premierminister | |
wählen die Bürger:innen derweil einen KI-gesteuerten Avatar. | |
Bergs Abrechnungssuada betont so auch in Ritters Kurzfassung die | |
Digitalisierung als Instrument der Repression. Die Einsamkeit im Virtuellen | |
lässt zudem das gesamte Stückpersonal frösteln. Gefühle von Lebendigkeit | |
entstehen nur noch beim Konsumieren. Immerhin erglimmt ein Fitzelchen | |
Sehnsucht nach Autonomie: Die vier Freunde wollen dem White-Trash-Schicksal | |
mit widerständigem Erwachsenwerden begegnen und beschließen: „Keiner wird | |
uns mehr verletzen.“ | |
Auf einer abzuarbeitenden Todesliste versammeln sie alle, die ihnen Leid | |
zugefügt haben. Da Männer vor allem mit totalitärem Gehabe als | |
frauenverachtende Brutalo-Monster daherkommen, will Karen zudem die | |
Trinkwasserversorgung infiltrieren mit einem Testosteron, also die | |
männliche Libido neutralisierenden Mittelchen: „Das würde 90 Prozent aller | |
Probleme auf dieser Welt lösen.“ Aber alles endet mit der ernüchternden | |
Behauptung vom Scheitern der Guerillakrieger. „Sie werden ordentliche | |
Berufe in der neuen Mitte der Gesellschaft einnehmen.“ | |
## Kollabierende Wirklichkeit | |
Weil es an prägnantem Regiezugriff mangelt, kommt diese Negativentwicklung | |
aber in chronischer Empörungsbetonung daher. Rhythmisch wird nicht groß | |
variiert, in der Erzählweise fehlen Verdichtungen, inhaltlich die | |
Fokussierungen. So reiht der Abend recht eintönig Elend an Elend, türmt | |
Ungerechtigkeit auf Unheil auf Grausamkeit, mäandert eingenebelt trostlos | |
zwischen Schwarz und Schwärzer. [3][Wo Bergs Vorlage noch vielschichtig | |
schillert,] auch von bitterbösem Witz und energischem Furor, fehlt das | |
alles nun vollends. | |
Die Musik hilft auch nicht gegen diese finstere Monotonie: Düster wallende | |
Sounds zu blassen Beats lassen nicht mal eine Ahnung aufkommen von der | |
Textflow-Rasanz und dem synkopierten Groove der britischen HipHop-Spielart | |
Grime, die immerhin in Roman- und Stücktitel auftritt: „GRM“. | |
Und mangels Empathie-Support für die Figuren erlöst auch keine Katharsis | |
das Publikum, weckt keine neue Sicht auf die kollabierende Wirklichkeit | |
Interesse. Zwar ist jeder Satz klug gedacht, toll formuliert, präzise | |
gesprochen und gekonnt für die sechs Stimmen orchestriert – und doch siegt | |
unerbittliche Illusionslosigkeit. Na dann: Gute Nacht. | |
8 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Buch-GRM-von-Sibylle-Berg/!5591210 | |
[2] /GRM-Brainfuck-am-Thalia-Theater/!5805308 | |
[3] /Neuer-Roman-von-Theresia-Enzensberger/!5874574 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
## TAGS | |
Deutsches Theater Göttingen | |
Göttingen | |
Sibylle Berg | |
Theater | |
Pandemie | |
Serien-Guide | |
Deutsches Theater Göttingen | |
Theater | |
Literatur | |
Thalia-Theater | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Dystopische ARD-Serie: Klimakatastrophe wird greifbar | |
Wenn man an die Folgen des Klimawandels denkt, könnte man meinen, Europa | |
sei davon nicht betroffen. „Families Like Ours“ zeigt das Gegenteil. | |
Ethik-Theater in Göttingen: Trainingslager für die Tugenden | |
In Rebekka Kricheldorfs Stück „Die Guten“ diskutieren die Gerechtigkeit, | |
die Mäßigung, die Tapferkeit und die Weisheit, ob sie noch relevant sind. | |
Berliner Herbstsalon im Gorki Theater: Serbisches Sieger-Narrativ | |
Das Gastspiel „Cement Beograd“ mischt sich mehrsprachig ein. Es war im | |
Rahmen von „Lost – you go slavia“ am Maxim Gorki Theater zu sehen. | |
Neuer Roman von Theresia Enzensberger: Gurus gibt es auch auf dem Wasser | |
Eine Utopie erleidet Schiffbruch mit Zuschauerinnen: Theresia Enzensbergers | |
zweiter Roman „Auf See“ steht auf der Longlist zum Buchpreis. | |
„GRM Brainfuck“ am Thalia Theater: Genervte Zeiten | |
Dystopie zum Mitwippen: Das Hamburger Thalia Theater hat Sibylle Bergs | |
Roman „GRM Brainfuck“ inszeniert. | |
Zoom-Gespräche über Nähe in Zürich: Plausch mit der Sexualtherapeutin | |
Im Schauspielhaus Zürich wird jetzt über Nähe gesprochen. Sibylle Berg und | |
Ruth Westheimer gelingt das bei der Premiere nur auf Umwegen. |