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# taz.de -- „GRM Brainfuck“ am Thalia Theater: Genervte Zeiten
> Dystopie zum Mitwippen: Das Hamburger Thalia Theater hat Sibylle Bergs
> Roman „GRM Brainfuck“ inszeniert.
Bild: Held*innen von heute: eine Handvoll randständiger, auch kaputtgemachter …
Hamburg taz | Vielleicht ist es ein Ding der Unmöglichkeit: Thematisieren
zu wollen, was Sibylle Berg umtreibt, und dafür [1][einen Roman] als Gefäß
zu wählen. Beziehungsweise daraus eine Fassung für die Bühne zu machen, wie
sie nun – nach Aufführungen beim Festival „Theater der Welt“ in Düsseld…
– in Hamburg zu sehen ist. Denn vielleicht gerät er schnell allzu
didaktisch, so ein „Blick nach vorn im Zorn auf eine nahe Zukunft“?
So einer nämlich sei das Stück – und auch die Vorlage, fügen wir hinzu –,
das steht vorne im Programmheft des Thalia. Er blickt also leicht nach
vorne, [2][dieser Stoff], „und handelt doch von nichts anderem als unserer
Gegenwart“. Was eine taugliche Beschreibung wäre für Science Fiction,
zumindest die, die, sagen wir: im Dunstkreis dieser Zeitung – oder auch
eines großen deutschen Sprechtheaters – nicht als Pfui gilt. Nämlich eine,
von der wir etwas lernen können.
Diese Irgendwie-Zukunft, die da nun unter Regie von Sebastian Nübling auf
die Bühne kommt: Nicht arg weit verlängern müssen – auf irgendwelche
Extreme hin – hat Berg die Technifizierung unseres Gefühlslebens oder das
Zuschandereiten des Klimas, dessen Auswirkungen mitnichten alle Menschen
gleich treffen; die Effekte krass ungleich verteilten Reichtums oder den um
sich greifenden Glauben ans Selberschmieden des eigenen Erfolges. Das alles
ist doch längst da, oder?
Bloß ist der Roman 2019 erschienen. Das Stück nun kommt rund zwei Jahre
später; Jahre, in denen ja auch wieder manches passiert ist.
## Original-Grime aus London
Als „sogenanntes Musical“ hat Berg selbst ihre Bühnenfassung bezeichnet,
was stimmt, als Grime, dieser inzwischen bestenfalls vorvorletzte heiße
Scheiß in britischen Unterklasse-Clubs – als „GRM“ bis in den Titel gela…
– hier zu seinem schmissigen Recht kommt: Originalmusik und -rhymes hat die
Londoner [3][Ruff Sqwad Arts Foundation] beigesteuert. Dazu tanzen nun in
Hamburg Ensemblemitglieder, aber auch authentische Straßentalente, und das
teils enorm beeindruckend.
In einem nicht nur sogenannten Musical würden sie gleich noch reimen und
rappen, aber das alles kommt vom Band. Was die Schauspielenden viel tun,
ist im Chor deklamieren, Berg-Prosa. Ein wenig angestrengt wirkt manchmal
das mit demselben Tempo. Diese jungen bis sehr jungen Darstellenden
verkörpern, was in Held*innen hier am nächsten kommt: eine Handvoll
randständiger, auch kaputtgemachter Jugendlicher, die nicht mehr mitspielen
wollen, oder wenigstens nicht so, wie die anderen das erwarten.
Das Komplementäre zum Tanzen und Hacken und der Subversion der Jungen sind
Propaganda, Dauergrinsen, Retro-Game-Show-Optik: Vom sich drehenden
Riesenbildschirm leuchten Gabriela Maria Schmiede und Tim Prorath auf uns
herab, liefern viel Exposition über die Verhältnisse: Wer seine Daten
rausrückt, bekommt ein – also mitnichten bedingungsloses – Grundeinkommen,
aber irgendwie enden die Menschen doch bloß in engen Schlaf-Betonröhren,
Trost vom Existenz-Elend bietet der arbeitstaglange Aufenthalt im
Virtuellen.
Die Verschiebung der Hamburger GRM-Premiere war nun ausgerechnet
Unglücklichem geschuldet: Krankheitsbedingt. Der neue Termin stellte sich
jetzt als irgendwie ganz glücklich heraus: Der Freitag vor den
Bundestagswahlen. Das war ja noch mal ein Großkampftag der
Klimaschutzbewegung.
Auch in Hamburg waren – je nach Quelle – 26.000 oder auch 80.000 Menschen
auf den Straßen. Ein einzelnes Klimaprotestplakat war auch abends, nach der
Premiere, vor dem Theater zu sehen. Aber im selben Moment, oder beinahe
wenigstens, sagte dann auch eine Zuschauerin zu den sie Begleitenden, das
sei ja doch alles nur so eine Art „Black Mirror-Folge“ gewesen, „angesehen
in besonders unbequemen Sitzen“.
„Dystopie war das Ding der letzten Jahre gewesen. Alle hatten so eine
tüchtige Endzeitangst“: Die Berg'sche Formulierung, im Stück nun noch
prominenter zu hören, als sie im Roman zu lesen war, könnte verstanden
werden als ein Thematisieren, aber auch eine Art Vorwärtsverteidigung der
Autorin: Keine Dystopie will „GRM Brainfuck“ sein, aber eine mutmachende
Rebellionserzählung, den Sieg irgendeines Guten setzt sie uns ja auch nicht
vor.
Überhaupt muss die Handlung vielleicht aus dem Buch kennen, wer nun im
Theater eine Entwicklung sehen will. Mindestens damals in Düsseldorf ist
einigen Kritikern das nicht gelungen: Sie bemängelten einen auf der Stelle
tretenden Abend – was aber einfach von einem falschen Maßstab künden
könnte. Ein DJ-Set funktioniert ja auch nach anderen Regeln, als eine
Symphonie.
8 Oct 2021
## LINKS
[1] /Buch-GRM-von-Sibylle-Berg/!5591210
[2] /!s=%22GRM+brainfuck/
[3] https://www.ruffsqwadarts.org/about
## AUTOREN
Alexander Diehl
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