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# taz.de -- „Die Wildente“ am Thalia Theater: Prekäres Familienglück
> Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson inszeniert Henrik Ibsens „Die
> Wildente“ am Hamburger Thalia Theater als Kammerspiel mit beeindruckender
> Intensität.
Bild: Pathos erlaubt: Immer wieder singt jemand einen Popsong zur Lage der eige…
Um sich dieses Lebensambiente schön zu reden, ist schon reichlich
Verdrängungsenergie notwendig. Auch wenn alles auf den ersten Blick nach
Wohlleben aussieht: kleiner Pool unter Palmen, dazu ein
Drei-Meter-Sprungturm, Kühlschrank mit Bier, Klavier mit Musiker,
flackernde Kerzen und Porzellanraubkatzen. Aber die Interieurs sind mit
La-Palma-Vulkanasche- oder schwarzer Farbschicht überzogen und zieren einen
Kampfplatz der emotionalen und materiellen Abhängigkeiten.
Frei nach Henrik Ibsen inszeniert Thorleifur Örn Arnarsson „Die Wildente
oder Der Kampf um die Wahrheit“ und lässt die Bühne als Kontrast zur
postapokalyptischen Anmutung mit weißer Folie rahmen. Nur eine
Karibikstrand-Kitschpostertapete sorgt für farbliche Aufhellung. Davor
spielen die Ekdals tapfer heile Familie und versuchen den Schein
kleinbürgerlichen Erfolgs und gemeinschaftlichen Friedens
aufrechtzuerhalten.
Angstgespannt und alltagspatent mit aufeinandergepressten Lippen schmeißt
Gina (Cathérine Seifert) den Haushalt und das Fotogeschäft ihres Gatten
Hjalmar (Merlin Sandmeyer), der chronisch verwirrt und klagend überfordert
ist von den familiären und beruflichen Anforderungen. „Ich bin ein
Versager“, so die realistische Selbsteinschätzung. Deswegen träumt er von
der großen, berühmt machenden Erfindung, die ihm bald gelingen werde – oder
zieht sich auf den Sprungturm zurück. Machttraumtänzerisch hantiert Hjalmar
dort mit Waffen und sucht die Gesellschaft seines Vaters (Tilo Werner), der
den Trübsinn seines Daseins weg zu saufen versucht.
Die lebenshungrige Tochter Hedwig (Rosa Thormeyer) leidet besonders am
gefühlskalten Miteinander, aber vor allem am Desinteresse, das die
Erwachsenen ihren Wünschen, Bedürfnissen sowie pubertär erotischen
Körperinszenierungen entgegenbringen. Um nicht zu verzweifeln, versucht sie
mit Liebeserklärungen an Papa und dem Schlichten elterlicher Streitereien
zumindest für „gemütliche Stimmung“ zu sorgen.
Aber wenn sich die Ekdals zum idyllischen Hausmusikabend zusammenfinden und
zitterig aneinander sowie an den Noten vorbei spielen, mit Papa als
Oberpfeife an der Blockflöte, ist die Illusion von Harmonie bereits
überdeutlich fragil und leicht vollends zum Einsturz zu bringen. Die Regie
bringt dafür aber eine menschliche Abrissbirne ins Spiel.
Sie entstammt einem anderen Ibsen-Werk: „Der Volksfeind“ Dr. Thomas
Stockmann tritt auf. Jens Harzer führt ihn mit unheilvoller Freundlichkeit
ein – in Begleitung seiner aufgetakelten High-Society-Schwester, die
Hedwigs Role-Model und frische Erbin des väterlichen Unternehmens ist.
Dagegen bringt ihr Bruder gerade ein Gutachten juristisch in Stellung, laut
dem der Betrieb das Heilwasser des Kurortes verseucht. Das müsse zum Wohle
der Menschheit öffentlich gemacht werden, sagt er.
Das will die Schwester natürlich mit der Macht ihres Geldes verhindern. Der
Bruder pocht unbeirrt auf die Macht des Rechts, das auf seiner Seite wäre.
Aber das Volk, in diesem Fall die Ekdals, ist nicht in Nehmerlaune für den
Skandal, denn er würde die Touristen vertreiben, von denen der Ort abhängig
ist.
Vom Typ passt es prima, dass dieser Stockmann auch der Unternehmersohn
Gregers aus „Die Wildente“ ist. Die Überblendung der beiden Dramen in
dieser Figur funktioniert dementsprechend gut, auch wenn die politische
Fragestellung verloren geht, inwieweit sich Wahrheit gegen die Macht
ökonomischer Interessen behaupten kann. Aber Stockmann ist nun passé, jetzt
folgt Gregers Offenbarung: Ekdals Frau sei die Ex-Geliebte seines Vaters
und Hedwig dessen Kind, die Ekdals würden von den geheimen
Unterhaltszahlungen leben.
Als Gerechtigkeitsapostel trägt Stockmann/Gregers seine beiden Enthüllungen
als aufklärerische und soziale Tat vor. Augen öffnen für Täuschung und
Selbsttäuschung will er als Start eines großen Kreuzzugs zur Befreiung aus
der Scheinwelt der Lebenslügen verstanden wissen, anschließend könne man
endlich in Frieden und Freiheit zusammenleben. Dafür inszeniert er sich als
rhetorisch versierter Spielmeister und smarter Erlöser.
Der Idealismus, keine Halbheiten mehr zu dulden, wird aber schnell als
tugenddiktatorisch zynischer Wahn kenntlich. Harzer gibt diesen
diabolischen Verführer lässig breitbeinig und verlockt mit weichgespült
sonorer Psychotherapeuten-Stimme, nach seinen Regeln zu handeln.
So zerstört er mit lächelnder Perfidie das prekäre Familienglück der
Ekdals. Warum? Er will sich reinwaschen von den Verlogenheiten und
kriminellen Machenschaften des Vaters, will auch Rache nehmen für alle die
Missachtungen, die ihm seine Familie zugefügt hat, und hofft so auf
Genesung seines kranken Gewissens. „Gutmachen, was wir verbrochen haben“,
wie er seine letztlich rein egoistischen Motive verbrämt.
Während Harzer von Beginn an der Teufel mit den Samthandschuhen ist, wird
der Inszenierung eine deutliche Entwicklung eingeschrieben. Der Abend
beginnt lapidar, gönnt sich auch komödiantische Ausflüge und steigert sich
mit der Tragödie der Wahrheitsentblößung zu beeindruckender Intensität. Opa
haut seine Wut dann schon mal mit einem Schlagzeugsolo heraus. Die anderen
singen immer wieder einen Popsong zur Lage ihrer Befindlichkeit.
Ansonsten verzichtet der Regisseur aber auf große Gesten, expressives
Pathos und pompöse Bilder, die bisher [1][sein Markenzeichen und
Erfolgskonzept] waren. Am Thalia bastelt Arnarsson nun Kammerspielszenen
zusammen. In fast jedem anderen Theater würde auf der großen Bühne die
intime Entblößung des Menschenfreundes als Menschenfeind, gespiegelt in den
Körpern der Betroffenen, wohl verpuffen. Da das Thalia dank des Ensembles
aber zu den Top-5-Häusern in Deutschland gehört, ist hier darstellerisch
ein packend genauer, emphatisch empathischer Abend zu entdecken über das
Recht aufs falsche Leben im falschen.
6 Dec 2021
## LINKS
[1] /Homers-Odyssee-in-der-Volksbuehne/!5622859
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Thalia-Theater
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