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# taz.de -- Gleichstand zum Saisonauftakt: Macht-Freak vs. Möchtegern-Jesus
> Zweimal triumphales Theater in Hamburg: „Richard the kid & the king“ am
> Schauspielhaus und „Der Idiot“ am Thalia Theater.
Bild: Virtuoses Spiel: Kristof Van Boven (l.) und Lina Beckmann als Richard
Hamburg taz | Groß denken und handeln auf der großen Bühne mit einem der
großen Stoffe der Weltliteratur, so könnten die angestauten
Schauspielenergien und -ideen aus anderthalb Pandemiejahren erlöst werden.
So ließe sich vielleicht auch das so lange fehlende Publikum in großer Zahl
zurück ins vorsichtig nach dem Schachbrettmuster zu besetzende Parkett
locken. Und so müsste doch zu punkten sein im Wettstreit, wer denn das
beste Theater ist im Hamburger Land.
Also haben die Top-Duellanten, das Thalia-Theater und das Deutsche
Schauspielhaus, eine Saisoneröffnungsproduktion um jeweils einen ihrer
Ensemble-Stars gebaut und dabei die Lebenszeit der Zuschauer nicht
geschont: Regisseurin [1][Karin Henkel] braucht mit „Richard the kid & the
king“ am Schauspielhaus vier Stunden, um Shakespeares „[2][Richard III.]“
anzureichern mit „[3][Heinrich VI.]“ (in der Fassung von [4][Tom Lanoye]).
Johan Simons nimmt sich am Thalia-Theater für Fjodor Dostojewskis „Der
Idiot“ viereinhalb Stunden Zeit. [5][Lina Beckmann], die jede Figur mit
herzglühendem Humor als zutiefst menschliches Wesen der Zuschauerempathie
anzubieten weiß, gibt den englischen Ultra-Bösewicht. [6][Jens Harzer], der
jede Figur mit musikalisch eleganter Sprechkunst als zutiefst
melancholisches Wesen dem philosophischen Sinn des Betrachters nahelegen
kann, gibt den russischen Möchtegern-Jesus.
Eine kreisrunde Welt(-Scheibe) wird im Schauspielhaus zur Schlachtplatte,
darüber glüht farblich akzentuiert ein auf und ab gleitender
Sternen-Planeten-Himmel aus Leuchtballons. Wir sind also irgendwo im
Universum, wo es um Grundsätzliches geht. [7][Kristof van Boven] macht
gleich das Thema des Abends auf. Er spielt das gesamte Personal aus dem
Hause Lancaster, vor allem aber Heinrich VI., der keine Lust mehr auf
Intrigen, Ränke, Morde und Kriege hat, sich lieber umbringen will als
weiter herrschen. Er greint nach Vernunft, Frieden, Gelassenheit und
zärtliche Gefühle.
Als Gegenentwurf steigert Richard die Psychopathologie einer Führungskraft
bis zur Machtgier. Als rücksichtslosem Karrieristen pflastern schließlich
Leichen seinen Weg zur Krone von England. Mit populistischer Rhetorik wird
das dem Volk verkauft. Lord Buckingham bastelt als PR-Profi, ein
schmieriger Lügner und Betrüger, die Marketingstrategie für Richard als
Recht-und-Ordnung-König und streut dazu Fake News. Da müssen Anspielungen
auf einen präsidialen Narziss wie Donald Trump und Parteien wie die AfD nur
dezent sein, um auf die traurige, geradezu ewige Aktualität des Stoffes zu
verweisen.
Aber das nur nebenbei. Das alles überstrahlende Zentrum des Abends ist
Richard, auch mitten im Getümmel stets mit sich allein. Wie er wurde, was
er bei Shakespeare ist, der Erzschurke, dafür liefert die Regie keine neue,
aber eine küchenpsychologisch nachvollziehbare Interpretation.
Zu Beginn hockt Beckmann als zusammengekauertes Kind auf einem
Schaukelpferd – in sozial schwierigen Verhältnissen. Zwar lebt Richard in
einem Haus des Adels, das ist aber kaum anders als desolat zu bezeichnen.
„Dumme Proleten“ nennt Richard seine Geschwister, weswegen sie gleich in
prolligem Outfit daherkommen. Fürsorge, Schutz und Zuwendung spendiert dem
Bengel Richard niemand. Wegen seines nicht ideal designten Körpers wird er
stattdessen verhöhnt.
## Im Blutrausch
Um ihn herum toben mörderische Kämpfe, wie selbstverständlich rollen
abgehackte Köpfe von Familienmitgliedern durchs Kinderzimmer. Solche
brutalsten Gesten der Stärke nimmt Richard an. Nicht mehr Opfer, sondern
unbegrenzt Täter und dabei fortgesetzt infantil will er sein, seine Wünsche
also stets umgehend befriedigen.
Gegen den Schmerz des Mobbings und Ausgegrenztseins tötet er erst mal sein
Inneres – Liebe, Angst, Gewissen, Mitgefühl – und rächt sich dann für all
die Demütigungen, indem er lustig drauflos massakriert, im Blutrausch auch
mal Gedärme aus Leibern reißt. Um dann zu knackigen Beats abzutanzen. Der
verführerisch manipulative Spielmacher hat Rock ’n’ Roll im Blut.
Beckmann nutzt das Verstellungsspiel gegenüber dem Stückpersonal als
Nachdenken über die Darstellungskunst des Theaters, inklusive Gags über
ihren „s“-Fehler. Leidenschaftlich funkelnd vor skrupelloser Klugheit und
tatkräftiger Rücksichtslosigkeit wirkt die Schauspielerin dabei zunehmend
wie der wahnsinnige Joker aus „The Dark Knight“. Nur komödiantischer. Sie
ist eben nicht das eindimensionale Monster, sondern balanciert kraftvoll
differenziert zwischen abgründig boshaftem und obergärig lustigem
Verhalten.
Das wirkt bei den Flirts mit dem Publikum faszinierend, weil man ihr die
unheilvoll schwarzseeligen Anwandlungen nicht so recht übelnehmen kann.
Denn so herrlich virtuos die Figur in allen Facetten gespielt ist, so
mitleiderregend wirkt das ungeliebte Kind, so treffsicher und
ironieblitzend sind seine Analysen der verkommenen Gesellschaft, so
nachvollziehbar die tödliche Verachtung für die Schmarotzer am Hofe. Aber
nach dem Aufstieg folgt wie stets der Untergang, Richards Rückkehr aufs
Schaukelpferd der Anfangsszene. Sein Nachfolger präsentiert sich als eitler
Macht-Pitbull – zur Fortsetzung des zerstörerischen Werks.
## Im Kindertraum
Im Gegensatz zu diesem dynamischen Spektakel kommt „Der Idiot“ am Thalia
als feinnervige Elegie um die großen Fragen der Menschheit daher. Wer mal
eine fundierte Auseinandersetzung mit zentralen Figuren und Themen einer
literarischen Vorlage erleben will, ist dort richtig. Die Regie nimmt sich
hoch konzentriert viel Zeit für all die Debatten und Ambivalenzen der
nervösen Charaktere.
Die Theaterform dafür ist von geradezu naturalistischer Anmutung. Ein paar
Stühle, Tisch und Kamin reichen als Raumausstattung, darüber hängen wie im
Schauspielhaus reichlich Leuchtquellen, der kargen Aufführung entsprechend
sind es dort unbeschirmte Glühbirnen. Der Boden ist mit Mehlquadraten
verziert, die zu Mehlnebeln verwirbeln, wenn das Ensemble in Bewegung
kommt. Vielleicht ein Verweis, dass die zaristisch-feudale Ordnung
Russlands in Auflösung begriffen ist.
Oder ein Verweis darauf, dass der Protagonist die geld- und ruhmbesessene
Gesellschaft durcheinanderbringt – indem er sie mit seinen
Bilderbuch-humanistischen Idealen vom guten, wahren, schönen Leben
provoziert. Er will mit seiner freundlich offenen, asexuell umarmenden Art
als Katalysator wirken, damit das Stückpersonal der ökonomischen Logik des
unglücklichen Daseins entsagt und in neuer Freiheit zu mitfühlendem Handeln
und selbstständigem Wollen kommt.
Jens Harzer als Fürst Myschkin könnte wie Richard auch als The Kid
bezeichnet werden, entwickelt er die Rolle doch wie ein unschuldig
stauendes, seine Umwelt erforschendes Kind, würzt die Herzensgüte mit
sanftmütigen Humor und präzise stoffeliger Körperlichkeit in der
Slapstick-Art eines Stan Laurel. Als kompromisslos aufrichtiger,
vertrauensseliger und altruistischer Mensch – wird er von allen betrogen.
Ob sie ihn nun als Erlöser lieben oder als romantischen Schwärmer für einen
Idioten halten.
Die Inszenierung zeigt, wie Myschkin im Haifischbecken der misstrauischen
Intriganten, martialischen Egoisten und mit Missbrauchserfahrungen sowie
Emanzipationswillen kämpfenden Frauen zunehmend an Souveränität und
Christus-Magie verliert – schließlich auch seinen Glauben und damit sich
selbst. Dieser Fürst ist einfach nicht von dieser heillosen Welt, um in ihr
seinen Platz zu finden. Ein langer, flacher, aber hochdramatischer
Spannungsbogen trägt neben dem famosen Ensemble dieses tragische Drama.
Der alte Zweikampf Schauspielhaus vs. Thalia startet zur Spielzeiteröffnung
also unentschieden: doppelt triumphal.
19 Sep 2021
## LINKS
[1] /Theatertreffen-in-Berlin/!5497687
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_III._(Drama)
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_VI._(Drama)
[4] /Konfliktreiches-Theaterstueck/!5404026
[5] https://www.schauspielhaus.de/de_DE/ensemble/lina-beckmann.80787
[6] https://www.thalia-theater.de/presse/fotos-zu-menschen/ensemble/harzer
[7] https://www.thalia-theater.de/ueber-uns/ensemble/schauspiel/darsteller/kris…
## AUTOREN
Jens Fischer
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Lina Beckmann spielt Fürst Myschkin, Charly Hübner seinen Freund Rogoschin.
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