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# taz.de -- Ethik-Theater in Göttingen: Trainingslager für die Tugenden
> In Rebekka Kricheldorfs Stück „Die Guten“ diskutieren die Gerechtigkeit,
> die Mäßigung, die Tapferkeit und die Weisheit, ob sie noch relevant sind.
Bild: Überdrehter Sprachgestus und Stand-up-Comedy-Ästhetik: Leidenschaftlich…
Ach, der Mensch ist nicht gut. Hochmut, Neid, Habgier, Völlerei, Wollust
usf. auf der Todsündenliste befeuern mit höllischen Flammen das
selbstverliebte Ego. Da es aber lebensnotwendig ist, in sozialen Gruppen
zusammenzuleben, sind Gegenspieler vonnöten, die auf Kompromisse drängen.
Die Philosophen der Antike haben sich deshalb vier Kardinaltugenden
ausgedacht, als erstrebenswerte Charaktereigenschaften, die später auch die
christlichen Kirchen als Selbsterziehungsziel ausgaben und heutzutage von
demokratischen Parteien als Handlungsorientierung propagiert werden.
Der Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Weisheit verhilft [1][Rebekka
Kricheldorf] als „weiblich gelesene Allegorien“ in ihrem Stück „Die Gute…
jetzt in Göttingen zum großen Auftritt, damit sie engagiert darüber
konferieren, inwieweit ihre Ideale noch relevant sind, wie stark ihnen
gehuldigt wird und wie sich ihre Beliebtheit entwickelt hat.
Trotz oder gerade wegen all der Kriegsschrecken, des Klimawandels,
alltäglicher Diskriminierungserfahrungen, einer politischen Rechtswende des
Zeitgeistes. Aber nicht deprimiert, sondern quietschfidel in futuristischem
CSD-Paraden-Schick stürmt das Quartett mit seinen Insignien – wie Schlange,
Schwert, Spiegel, Säule, Krug – in das mit Tugenddarstellungen der
bildenden Kunst und Versatzstücken aus Omas Wohnzimmer geschmückte Deutsche
Theater.
Erst mal wird das Publikum animiert, sich selbst zu beklatschen für all
das, was es heute schon Gutes getan hat. Der Applaus ist überschwänglich
und schnell ist von einer „Tugenddämmerung“ die Rede. Sind Laster und
Sünden besiegt, zumindest in Göttingen, [2][wo seit Jahren die Grünen die
Wahlen gewinnen]? Dem Pressespiegel der letzten Jahrzehnte entnimmt das
Bühnenquartett, dass Nachhaltigkeitsstreben, Empathie, Solidarität und
ökologische Verantwortung als kollektive Praxis verstärkt nachgefragt
würden. Dystopien seien out, Utopien in. Und „das Böse heißt ja bekanntlich
immer, immer Vladimir“, bleibt überschaubar und fern. Also alles gut?
## Schlau zugespitzt
Aber schon die ersten Nachfragen initiieren eine leidenschaftlich tobende,
satirisch gebildete und trotzdem differenzierende Debatte, welche Tugend
nun tatsächlich welche Spuren hinterlassen hat – oder warum nicht – und mit
welcher es am meisten Probleme gibt. Dabei geraten die vier immer wieder in
Selbsterklärungsnöte und streiten sich auf der Bühne um die Möglichkeiten
zum Guten, also darum, das „Gute um des guten Willens“ zu tun und nicht „…
der guten Wirkung Willen“.
Schon kippt die Stimmung, den Gutmenschen wird misstraut. „Inzwischen
praktizieren die eine dermaßen wollüstige Askese, ein dermaßen gieriges
Gutsein, eine dermaßen hemmungslose Selbstkontrolle“, beklagt sich
Temperantia und betont, nicht mehr zu wissen, ob sie mit den Exzessen des
Maßhaltens gefeiert oder missachtet werde. Bald kokettieren alle
selbstironisch mit ihren Fans: „Wir platzen vor Stolz auf unsere
Bescheidenheit fast aus unseren Bio-Schurwoll-Anzügen“.
Mit wir seien die „Moralaristokraten“ und „Gesinnungshedonisten“ gemein…
Die kann Justitia nur noch mit Antidepressiva ertragen: „Alles ist
beschissen wie immer.“ Die boomende politische Korrektheit sei vielfach
eher psychologischer Egoismus zum Besserfühlen, also Heuchelei denn
fundamentale Kurskorrektur – und der öffentliche Selbsteifer von
moralischem Überlegenheitsgetue einfach peinlich. Weswegen nun auch
Publikumsbeschimpfungen aufflackern. Ein grundsätzliches
Gutmenschen-Bashing, wie es aus der rechtspopulistischen Ecke tönt, wird
daraus aber nicht.
## Dampfplaudertheater
Sprachlich ist das Stück eine formulierungsspaßige Freude. Inhaltlich
beeindruckt, wie humorvoll leicht aktuelle Diskurse angeschnitten und dabei
doch in schlauen Zuspitzungen ernst genommen werden. Gelungen ist es auch,
wie Regisseurin Meera Theunert den überdrehten Sprachgestus temporeich in
eine Stand-up-Comedy-Ästhetik übersetzt. Gestisch exzessiv zicken, albern,
schreien, argumentieren und polemisieren die Darstellerinnen Marie Seiser,
Judith Strößenreuter, Andrea Strube und Charlotte Wollrad gegen- und
miteinander, und begeistern mit ihrem spielfreudigen Vergnügen, den Text zu
verlebendigen.
In der Hitze von 90 Minuten dauererregtem Dampfplaudertheater um
Tugendwillen, -können und -versagen folgt final die Ankündigung, dass nun
der große Krieg gegen die Sünden anstehe. Aber der ist nur etwas für die
Tugenddogmatiker, denn die menschliche Natur ist eben nicht gut – nicht
böse. Sondern beides. Die Komplexität des Themas vermittelt dieser
theatrale Ethik-Grundkurs höchst anregend mit überbordender Komik.
Sehenswert!
14 Sep 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Jens Fischer
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