# taz.de -- „Woyzeck“-Inszenierungen im Norden: Das Stück der Stunde | |
> Auf etlichen Bühnen kommt derzeit Georg Büchners „Woyzeck“ zur Premiere. | |
> Was erzählt diese heikle Hauptfigur über unsere offenbar unsicheren | |
> Zeiten? | |
Bild: Zwischen Operetten- und Gruselkabinettfigur: Woyzek in Ayla Yeginers Hild… | |
Böse ist die Welt und voller schlechter Menschen: Theatermacher:innen | |
im Norden blicken derzeit vielfach in eine düster verwirrende Zukunft. | |
Vielleicht deshalb wird [1][„Woyzeck“] zum Stück der Saison. Mit grotesken | |
Figuren findet Autor Georg Büchner darin zu einem Ausdruck für den Wahnsinn | |
einer haltlos selbstzerstörerischen Gesellschaft. | |
Im Zentrum leidet der Protagonist an der feindlichen, chaotischen, brutalen | |
Umwelt, wird in pseudowissenschaftlichen Experimenten physisch ruiniert, | |
vom Militär unterjocht, von der Gesellschaft verhöhnt und selbst von der | |
Freundin Marie noch betrogen. Keine Chance bekommt er im Kampf um ein | |
bisschen Stolz und Lebensglück, bleibt völlig haltlos in das absurde Dasein | |
verstrickt und in seine immer gleich ausweglos kreiselnden Gedanken-, | |
bedrohlichen Fantasie- und ungeheuerlichen Erinnerungssplitter. | |
Zehn Regisseur:innen bringen das Drama bald oder wieder auf | |
norddeutsche Bühnen: In Celle, Wilhelmshaven und Oldenburg hebt sich noch | |
im Herbst der Vorhang für neue Produktionen; Wiederaufnahmen gibt es in | |
Hamburg, Lübeck, Göttingen. In Wolfsburg wurde bereits Premiere gefeiert, | |
in Hildesheim sogar schon zweimal – und eine dritte Fassung, die „Woyzeck“ | |
in Yamila Khodrs Choreografie zum Tanzen bringt, wird dort ab dem 21. | |
Januar zu sehen sein. | |
Sehr viel Gleiches also, einerseits. Aber höchst unterschiedlich fallen die | |
Antworten auf die entscheidende Frage aus: Ist Woyzeck, wenn er Marie am | |
Ende ersticht, ein Fall für die Psychiatrie, ein herzloser Mörder, als | |
geknechtete Kreatur vor allem Opfer seiner prekären Lebensumstände – oder | |
von allem ein bisschen? | |
## Unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage | |
Regisseur Ersan Mondtag startete Mitte September den Premieren-Reigen mit | |
einem [2][Anti-„Woyzeck“] in Wolfsburg: Laut Text rast er hirnwütig | |
fiebernd und äußerlich gehetzt durchs Stück. Im Scharoun-Theater nun | |
plantscht Maximilian Diehles Woyzeck aber in völlig spannungsloser Ruhe mit | |
den Füßen in einem Teich. Hinter ihm wallt Nebel durch einen idyllisch | |
mondbeschienenen Nadelwald – belebt von ein paar Campern. | |
Ausnahmslos Männer spielen hier Büchner. Gerrit Jansen beispielsweise | |
Marie, die mit zärtlicher Bestimmtheit auch den stummen Sohn | |
alleinerziehend bemuttert und mit Woyzeck ein liebevoll sensibles | |
Kuschelpaar abgibt. Ungemütlich ist die Jahrmarktszene des Stücks, in der | |
Woyzeck als viehischer Mensch erniedrigend vorgeführt, dann in den Teich | |
gestoßen und zusammengeschlagen wird vom Sinnbild toxischer Männlichkeit, | |
dem Tambourmajor. Marie aber, von dessen Macho-Physis allzu fasziniert, | |
lässt sich betören. | |
Die Männerclique auf der Bühne repräsentiert mit deutlich fixierten | |
Hierarchien unsere patriarchal geprägte Gesellschaft, die den Schwächsten | |
gern zur chauvinistischen Selbstvergewisserung ihren Außenseiterstatus | |
einprügelt. Die Regie behauptet, das Männlichkeitsgehabe des Kollektivs | |
habe die größere Schuld am finalen Mord, nicht das ihn ausführende | |
Individuum. Gezeigt wird aber nicht, dass dieses Verhalten den sanften | |
Träumer Woyzeck zum Killer mutieren lässt. Er blickt chronisch weltentrückt | |
unter einer Jesus-Mähne hervor und hat vielleicht einfach genug von dieser | |
Trantütigkeit. | |
Provoziert wird dabei die Frage, ob es eine gute Idee ist, Männergewalt | |
gegen Frauen als Gewalt unter Männern zu zeigen. Das nimmt dem Stück die | |
traurig aktuelle Brisanz: Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann seine | |
Partnerin oder Ex-Partnerin umzubringen, davon erzählen Polizeistatistiken; | |
und jeden dritten Tag gelingt das einem Mann. | |
Genau da setzt Ayla Yeginers Inszenierung in Hildesheim an: Zwischen | |
Operetten- und Gruselkabinettfiguren ist Woyzeck bei ihr überfordert in | |
seiner devoten Dienstbarkeit. Eine historische und politische Verortung | |
seiner Quälgeister und seiner selbst spielt dabei eine untergeordnete | |
Rolle. | |
Eine hinzuerfundene „Idiotin“ bringt mimisch immerhin etwas Mitleid für die | |
Hauptfigur ins Spiel. Marie (Nina Carolin) ist die typisch frustrierte | |
Freundin, die sich vom Tambourmajor nun sogar im Wortsinne abschleppen | |
lässt. Woyzeck (Paul Hofmann) schubst ihn dann um und rast mit gezücktem | |
Messer hinter Marie her, nimmt sie in den Würgegriff, ritzt sie zu Tode. | |
Ein heißblütiger Mord aus verletzter männlicher Eitelkeit, Rache oder | |
Eifersucht. Zweifelsfrei ist dieser Schauspiel-Woyzeck ein ohne | |
Relativierung zu verurteilender Täter. | |
## Eine Marie im roten Lackledermantel | |
Freundlicher geht Regisseur Amit Epstein mit ihm um in der ebenfalls | |
Hildesheimer Musicalproduktion, während angeraut popmilde Rocksongs des | |
Hamburger Komponisten Manuel de Rien aus dem Graben flüstern. Wo Woyzeck | |
draufsteht ist auch Woyzeck drin, jedenfalls steht sein Name auf dem Körper | |
von Samuel Jonathan Bertz. | |
Der gibt den geschlagenen Hund, kriecht im Kreis und malt mit Worten die | |
hoffnungslos verdorrte Atmosphäre. Alle Personen sprechen vor allem | |
Englisch. Nur Woyzeck zelebriert die kraftvolle Büchner-Poesie | |
unerschrocken in Deutsch. Die dadurch installierte Sprachbarriere soll wohl | |
die verständigungslose Ferne zeigen zwischen Woyzeck und seiner sozialen | |
Umwelt – und gleich noch die Klassenfrage stellen. | |
Marie (Katharina Wollmann)zeigt mit rotem Lackledermantel über rotem | |
Trainingsanzug, dass hier die Triebe lodern. „Ich will Spaß“, sagt sie, | |
bezeichnet den Kraftkerl Tambourmajor als „really hot guy“ und beginnt | |
lustvoll zu tanzen. Klar, was kommt. Es dauert dann allerdings eine halbe | |
Stunde, in der expressionistische Lyrik verrockt werden muss, bis Woyzeck | |
Maries Lebensgeister auslöscht. Bertz wütet dabei nicht wie ein | |
frauenhassender Killer, sondern ist ein in den Wahnsinn abdriftender Mensch | |
von ganz unten, durchaus angefeuert von Mehrheitsbürgern, die als besoffene | |
Partytiere grölen. | |
„Wie könnte ich gut sein, wenn die ganze Menschheit schlecht ist“, so | |
formuliert Woyzeck seine fragwürdige Moral, mit der sich Marie nicht | |
zufrieden gibt. Sie schüttelt noch mal die Leichenstarre aus dem Körper und | |
erinnert daran, dass am Ende der Geschichte mal wieder eine tote Frau auf | |
der Bühne liegt. | |
Schauspielerisch top ist die dramaturgisch gescheiterte, inzwischen [3][ans | |
Berliner Ensemble weitergereichte Wolfsburger Inszenierung]. Die beiden | |
Hildesheimer Produktionen sind da eher wenig überzeugend. Yeginers | |
Schauspiel-Inszenierung überzeugt aber in ihrer Klarheit, die Geschichte | |
des Klassikers gewinnt dramatische Gestalt und die Schüler:innen-Massen im | |
Publikum – „Woyzeck“ ist Abiturthema 2024 – erfahren alles Grundlegende… | |
Stück. | |
Dagegen krankt der Musiktheater-„Woyzeck“ daran, dass die Musicalausbildung | |
der Hauptdarsteller:innen die tiefenscharfe Durchdringung der Figuren | |
– aber auch dem rockigen Gesang – im Wege stehen. Die noch mit Bibelzitaten | |
aufgeplusterte Textfassung von Intendant Oliver Graf ist wenig hilfreich. | |
Dafür überzeugt der anregend widersprüchliche Schluss. | |
6 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Woyzeck | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=2z-XPubA-YE | |
[3] https://www.berliner-ensemble.de/inszenierung/woyzeck | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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