# taz.de -- Frank Castorf am Berliner Ensemble: Aus Rot wird Braun | |
> Frank Castorf inszeniert Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“ … | |
> Berliner Ensemble – und zieht Parallelen von den Dreißigern zu heute. | |
Bild: Kein Grund zur Panik, dank Drogen gegen Seelenschmerz: Das siebenköpfige… | |
Wenn die Verhältnisse zu kompliziert werden, greift der Mensch gern zu | |
Betäubungsmitteln. Die mildern den Seelenschmerz und öffnen Türen zu | |
anderen Welten. So pilgerten denn [1][Scharen von Wegbegleitenden Frank | |
Castorfs] am Wochenende [2][ins Berliner Ensemble (BE)], um sich dort ihre | |
Dosis des Regisseurs abzuholen. | |
Der Bühnenapotheker aus Ostberlin lieferte auch, dank eines zu wilder | |
Brillanz gepeitschten Ensembles. Sie schufen einen fünfeinhalbstündigen | |
Parforceritt durch das Leben des Drogenkonsumenten [3][Hans Fallada und | |
dessen literarischen Welthit „Kleiner Mann – was nun?“]. Weitere Feuerkra… | |
gaben [4][Einsprengsel von Dramatiker Heiner Müller] und Lieder etwa aus | |
dem Spanischen Bürgerkrieg. | |
Den Rahmen bildeten aber die Drogen. Aus einer siebenköpfigen Bande mit | |
Glitzerklamotten heraustretend zerdehnte, zerdrückte und zerkaute zunächst | |
Jonathan Kempf eine expressionistische Beichte Falladas über | |
Suizidfantasien, Entfremdungsgefühle und Rauschzustände. Auch Entwöhnung | |
ist Thema. Im schmissigen Chor schwören alle sieben Darstellenden mit dem | |
Song „Nie wieder“ dem Kokaingebrauch ab. | |
Der Schwur hält nicht lange, natürlich nicht. Die Zeiten sind ja auch zum | |
Flüchten. In seiner sprunghaften Lektüre von Falladas „Kleinem Mann“ pickt | |
Castorf sich bald das schrille Pärchen Mutter Pinneberg (Artemis Chalkidou) | |
und deren kleinkriminellen Partner Jachmann (Andreas Döhler) heraus. In | |
einem Keller des BE, malerisch verrümpelt mit dicken Eisenrädern, setzen | |
sich die zwei gegenseitig Spritzen. | |
## An Glanztaten der alten Volksbühnen-Crew erinnert | |
Kreatur trifft auf Kreatur, balgt um einen Zipfel von Lebensglück, wissend, | |
dass das Glück nur ephemer, das Betrogenwerden aber permanent ist. Beide | |
werden im Großformat auf die Leinwand projiziert, eingefangen von je einem | |
der beiden Live-Kamerateams, mit teils sich überkreuzenden Perspektiven. | |
Dann steigen sie in eine hypermoderne Duschzelle, die mitten im Keller | |
leuchtet. Mit dem Wasser tropft rote Flüssigkeit von oben auf die Körper. | |
Verletzung und Verletzlichkeit zugleich sind auf die Bühne gemalt, wie | |
schon lange nicht mehr gesehen. Man fühlt sich mit diesem Ensemble an | |
Glanztaten der alten Volksbühnen-Crew erinnert, und das nicht nur, weil | |
Kathrin Angerer schräg vor einem im Zuschauerraum sitzt. | |
Die lädierte Mutter steigt schließlich aus dem Keller nach oben, trifft | |
dort auf Pauline Knof als Lämmchen, die biestig zur Schwiegermama und | |
obersüß zum jungen Gatten Pinneberg ist. Als Lämmchens Mutter wiederum | |
bringt Knof in einer der Szenen zuvor die geschundene Hellsichtigkeit einer | |
Unterschichtsfrau zum Glühen. Im Hause Mörschel, dem Elternhaus | |
Lämmchens, lässt Castorf das Hohelied proletarischen Widerstands singen. | |
Eine Rote Fahne wird hingebungsvoll geschwungen. Und nachdem Gabriel | |
Schneider als Bruder Karl sein Gesicht in rotes Kunstblut getaucht hat, | |
stimmen alle mit der Unterstützung der volltönenden Stimme des roten Barden | |
Ernst Busch das Lied der Jarama-Front an – einem Durchhaltelied der | |
Internationalen Brigaden gegen Franco-Faschisten und die deutsche Legion | |
Condor. | |
## Weltgeschichtliche Exkurse mit Heiner Müller | |
Ostdeutsche Herzen werden wenig später mit dem Lied „Der kleine Trompeter“ | |
in sentimentale Schwingungen versetzt. Der Song beschrieb den Tod eines | |
kommunistischen Musikers in Straßenkämpfen 1925 und fand weite Verbreitung | |
in der DDR. Das Lied wurde in den 1930er Jahren auf Horst Wessel | |
umgedichtet, einen Nazi, der von Kommunisten getötet wurde. Diese Pointe, | |
wie mit wenigen Strichen aus roter Folklore braune gemacht werden kann, | |
lässt Castorf allerdings aus. | |
Mit den kommunistischen Songs wie auch mit Einschüben von Müllers Texten | |
akzentuiert Castorf die von [5][Fallada nur angedeuteten politischen | |
Kämpfe] jener Zeit. Er verlängert das in die Gegenwart, lässt unter einem | |
grün angeleuchteten roten Tuch vom Verrat durch Sozialdemokraten und Grüne | |
raunen. Auswege kennt er allerdings keine. Das mächtige Räderwerk der | |
Drehbühne, das tatsächlich aus sowjetischen Panzerteilen besteht, dreht | |
sich am Ende als Decke eines Luftschutzkellers im Berlin des Jahres 1945. | |
Nach diesem dröhnenden weltgeschichtlichen Exkurs kommen die Drogen zurück. | |
Auf einem zerknautschten roten Teppich, der mit feucht gewordenen Federn | |
bedeckt ist, erzählt Knof als letzte Ehefrau Falladas, wie ein paar | |
Schlafmittel zu viel aus ihrer Hand den Tod des Gatten herbeigeführt | |
hätten. Ein stilles Ende eines großen Abends. | |
16 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Intendantenwechsel-an-der-Volksbuehne/!5422901 | |
[2] /Frank-Castorf-inszeniert-Erich-Kaestner/!5778529 | |
[3] /Romanfiguren-in-Krisenzeiten/!5317654 | |
[4] /Schlachten-im-Maxim-Gorki-Theater/!5921719 | |
[5] /Hans-Fallada-Romanverfilmung/!5984040 | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
## TAGS | |
Bühne | |
Theater | |
Theaterstück | |
Premiere | |
Berliner Ensemble | |
Frank Castorf | |
Hans Fallada | |
Heiner Müller | |
Berliner Volksbühne | |
Kultur in Berlin | |
NS-Literatur | |
Theater | |
Theater | |
Deutsches Theater | |
Deutsches Theater Göttingen | |
Puppentheater | |
Maxim Gorki Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
TV-Doku „Jeder schreibt für sich allein“: Geister der Vergangenheit | |
Kann man Autor:in und Werk voneinander trennen? Das fragt eine Arte | |
Dokumentation zu Schriftsteller:innen im Nationalsozialismus. | |
Komödie am Berliner Ensemble: Theater im Theater | |
„Der nackte Wahnsinn“ ist seit vierzig Jahren eine beliebte | |
Boulevardkomödie. Jetzt hat sie Oliver Reese am Berliner Ensemble | |
inszeniert. | |
Interimsintendanz für die Volksbühne: Beerdigung erster Klasse | |
Das Künstler-Duo Vegard Vinge und Ida Müller, beliebt und berüchtigt als | |
Theater-Zertrümmerer, soll die Volksbühne in Berlin für drei Jahre leiten. | |
Fellini-Adaption am DT Berlin: Bumm bumm bumm | |
Wie wird es weitergehen? Düstere Aussichten auf und hinter der Bühne | |
verhieß ein Abend am Deutschen Theater in Berlin: „Das Schiff der Träume“. | |
Ethik-Theater in Göttingen: Trainingslager für die Tugenden | |
In Rebekka Kricheldorfs Stück „Die Guten“ diskutieren die Gerechtigkeit, | |
die Mäßigung, die Tapferkeit und die Weisheit, ob sie noch relevant sind. | |
Puppenspieler Nikolaus Habjan im Porträt: Dem Grusel mit Humor begegnen | |
Nikolaus Habjans Puppen schildern das Fortleben faschistischer Ideologien | |
und zelebrieren gleichzeitig die Schönheit der Oper. | |
Saisoneröffnung am Gorki-Theater Berlin: Beethoven und Teufelsaustreibung | |
Cem Kaya inszeniert am Berliner Gorki-Theater mit „Pop, Pein, Paragraphen“ | |
eine Videovorlesung. Die beleuchtet das komplexe deutsch-türkische | |
Verhältnis. |